Aus den wilden Lese-Jahren

MEMOIREN Ulrich Raulffs Erinnerungsbuch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ erzählt von der theoretischen Aufbruchsstimmung der, eben, 1970er. Für die Theorie selbst allerdings interessiert sich der Autor dabei nicht so sehr

Vielleicht sollte man vorab erwähnen, was Ulrich Raulffs Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ nicht ist: Eine Studie über die Siebzigerjahre hat der 1950 geborene Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach und ehemalige leitende Feuilletonist der F.A.Z. und SZ nicht geschrieben. Dieser Aufgabe einer exakten historischen Vermessung der büchervernarrten Theorie-„Revolte“ in den 1970er- und 1980er-Jahren Deutschlands hat sich zuletzt Philipp Felsch in seinem ausgezeichneten Sachbuch „Der lange Sommer der Theorie“ angenommen.

Raulff erzählt „In Wiedersehen mit den Siebzigern“ zwar auch vom großen Abenteuer des Lesens, Büchermachens und Übersetzens in einer Epoche, in der (post-)strukturalistische französische Historiker, Philosophen und Semiotiker wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze oder Roland Barthes mit ihrem „gefährlichen“ nicht-dialektischen Denken für eine aufgekratzte theoretische Aufbruchstimmung unter neomarxistisch ermüdeten Studenten sorgten, doch tut Raulff, dessen wilde Zeit studentischen Lesens im damals noch knallroten Marburg begann, das eben als Memoirenschreiber, und nicht als Historiker.

Nicht nur Peter Gente, Hauptprotagonist in Felsch’ „Der lange Sommer der Theorie“ und Mitbegründer sowie langjähriger Geschäftsführer des Berliner Merve-Verlags, fühlt sich auf seiner Suche nach rasender theoretischer Aufregung wie vom Blitz der Erkenntnis getroffen. Auch Raulff verliebt sich rasch in den „neuen Sound der theoretischen Literatur“, interessiert sich auf seiner Erinnerungsreise, die ihn unter anderem nach Frankreich in die großen Bibliotheken und zu Foucault führt, allerdings kaum für die Theorie selbst.

Dafür umso stärker für allerlei Anekdotisches und Atmosphärisches, für auffällige Damen in hübschen Kostümen und für prominente Namen, natürlich. Und, ja, klar: Selbstverständlich ist der Autor ein waschechter „homme de lettre“ – es aber so oft und so stark zu betonen, wie er es tut, grenzt an Angeberei und macht aus dem elegant geschriebenen Büchlein mitunter eine eitle Nabelschau.  MICHAEL SAAGER

■ Do, 21. Mai, 20 Uhr, Literarisches Zentrum Göttingen