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Elegant federnde Sätze

SOUVERÄN Abrechnung mit dem Stalinismus: Lydia Tschukowskajas Roman „Untertauchen“

Ein Baum, was ist das schon. Die berühmte Frage aus Jurek Beckers noch berühmterem Ghetto-Roman „Jakob der Lügner“ drängt sich beim Lesen dieses Buchs auf, das ebenfalls berühmt sein müsste, und sei es nur, weil es, wie seit Stifters Zeiten nicht mehr, „Bäume, nichts als Bäume“ (Becker) zu enthalten scheint. Berühmt aber ist Lydia Tschukowskajas Roman „Untertauchen“ nie geworden, und dass er lange Zeit nicht einmal gelesen werden durfte, hat auch mit den Bäumen zu tun, die in sensationeller Dichte die komplette Erzählstrecke säumen.

Die Bäume sind Birken, und wenn die Erzählung auf elegant federnden Sätzen durch die Handlung gleitet wie ein von munteren Pferden gezogener Schlitten, evoziert die Phalanx der grazilen Stämme jene sprichwörtliche Weite und Tiefe, in der bekanntlich die russische Seele wohnt, heiter-wehmütig und unergründlich.

In diese nationalheilige Landschaft platziert Tschukowskaja keck ein Sanatorium für Schriftsteller und Funktionäre und verschreibt ihrer Erzählerin Nina Sergejewna einen dreiwöchigen Kuraufenthalt, inklusive leidiger Tischgespräche mit Würdenträgern, an deren vulgärem Opportunismus schon Gogol seine Freude gehabt hätte, aber auch langen, an Tschechow erinnernden Spaziergängen mit Seelenverwandten.

In den lichten Fluchten und dem feinen Geäst der verschneiten Wälder spürt Nina Sergejewna den Geist der ihr vertrauten Poeten, sie grüßt sie mit deren Versen. Doch was klingen mag wie ein romantisch verzauberbergtes Gesellschaftsbild vor einer verwunschenen Naturtraumkulisse, entpuppt sich als so subtile wie brillante Abrechnung mit dem stalinistischen Terror und erweist sich als eines der erstaunlichsten Sprachkunstwerke, das dem sowjetischen Permafrost abgetrotzt worden ist: eine Opfergeschichte, die nicht im Reflex der Anklage verharren will, sondern provozierend selbstbewusst das komplette Terrain der vorrevolutionären russischen Literatur einnimmt, deren Prestige längst auch die KP beansprucht hatte.

Schon in den ersten Zeilen ist die Souveränität der Erzählerin spürbar, die bereits Rhythmen wechselt und Auslassungen riskiert, wo andere noch versuchen, einen Erzählton zu finden. Es ist jedoch charakteristisch für diesen hochreflektierten Roman, dass er bei aller sprachlichen Meisterschaft auch das Produkt eines schriftstellerischen Scheiterns ist. Denn Sergejewna, Lektorin und alleinerziehende Mutter, eine moderne, urbane Intellektuelle mit einer ähnlichen Lebensgeschichte wie die Autorin, will die Sanatoriumsruhe nutzen, um nach zehn Jahren endlich ein Buch über ihren Mann zu schreiben, der seit den „Säuberungen“ 1937 verschollen ist.

„Untertauchen“ möchte sie zu ihm in den Schrecken der Lager, doch dazu fehlt ihr die Kraft. Stattdessen taucht sie ein in die Kulisse einer Welt von gestern, und während sie das Tagebuch mit Beschreibungen ihres Wintertagetraums füllt, entsteht zugleich das Bild einer von politischem Mord, Willkür und Überwachung traumatisierten Gesellschaft. In ihr nistet die Angst, die jäh ausbricht, wenn laufende Automotoren die Nachtruhe stören und ein jiddischer Dichtergreis verhaftet wird. Vom Antisemitismus in der Sowjetunion erzählt Tschukowskaja auch mit der Freiheit einer Literatin, die seit der Ermordung ihres Mannes, des Physikers Matwei Bronstein, das Fürchten verlernt haben muss, und in der Gewissheit, dass dieser Roman, an dem sie acht Jahre gearbeitet hat, kaum je eine sowjetische Zensur passieren dürfte.

An die Nachgeborenen ist dieses Buch gerichtet wie Brechts gleichnamiges Jahrhundertgedicht, und wenn man es jetzt, fast 60 Jahre nach seiner Vollendung und knapp 30 Jahre nach der russischen Erstveröffentlichung, in Swetlana Geiers wunderbarer Übersetzung liest, erhält man auch eine Antwort auf die Frage, was für Zeiten das sind, in denen das Gespräch über Bäume ein Verbrechen ist. HANS-JOST WEYANDT

Lydia Tschukowskaja: „Untertauchen“. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Dörlemann Verlag, Zürich 2015 256 Seiten, 18,90 Euro

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