Ein ganz normaler Abend

URTEILE Wenn Medien über Vergewaltigungsprozesse berichten, sind es meist nur die spektakulären. Kachelmann etwa. Woche für Woche laufen aber etliche andere Verfahren, ganz gewöhnliche. Das Protokoll eines Prozesses. Und drei Stimmen von Opfern, von denen nur eines anzeigt

Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung wurden in Deutschland 2014 angezeigt

Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik

Jahre dauert die Verjährungsfrist für eine Vergewaltigung. Frauen können die Täter also auch Jahre nach der Tat anzeigen

Quelle: Frauen gegen Gewalt e. V. Köln

Monate trägt Emma Sulkowicz ihre Matratze über den Campus der US-Universität Columbia. Ein Kommilitone soll sie auf dieser Matratze vergewaltigt haben

Quelle: www.carryingtheweighttogether.com

des Strafgesetzbuchs regelte bis 1997, dass Vergewaltigung in der Ehe nicht als Vergewaltigung zählte

Quelle: Strafgesetzbuch

einstweilige Verfügungen erwirkte Jörg Kachelmanns gegen Medienberichte nach dem sogenannten Kachelmann-Prozess

Quelle: Bildblog.de

lautet die Nummer des Notfall-Telefons für Opfer, auch von sexueller Gewalt

Quelle: Weißer Ring

VON ANNABELLE SEUBERT (TEXT) UND CHRISTOPH BUSSE (FOTOS)

1.Teil

Landgericht Leipzig. Verhandelt wird ein Fall, den nicht viele verfolgen, mit zwei Zuschauerreihen, die fast leer bleiben.

9 Uhr. Am Morgen des zweiten Verhandlungstags bilden die Tische in Saal 3 ein „U“. Der Angeklagte sitzt in Handschellen neben seiner Verteidigerin; hin und wieder flüstert sie ihm Dinge zu, auf die er nicht antwortet. Als sie ihren Laptop vor sich aufklappt, hat der Rechtsmediziner gegenüber seinen Yves-Saint-Laurent-Koffer schon zugeklappt. Neben ihm warten Anwältin und Staatsanwältin. In die Mitte treten die Schöffen – und zwei Richter, von denen nur einer spricht. „Bitte, nehmen Sie Platz.“

Richter: Herr Kranz, Sie sind hier als Zeuge geladen, gebürtig aus Karl-Marx-Stadt am; einen Moment – am 3. 2. 1986. Sie haben bei der Polizei ausgesagt, das Blütenfest sei normal verlaufen: „Ein ganz normaler Abend.“ Würden Sie das immer noch sagen?

Zeuge: Ja, na ja, das war ganz normal.

Richter: „Bisschen trinken. Bisschen tanzen.“ Erinnern Sie sich auch noch an den Zeitraum davor, hat man da ein bisschen vorgeglüht, wie man so schön sagt?

Zeuge: Ein bisschen, nicht viel. Also, der Markus hat sich normal verhalten. Zahnschmerzen hatte er. Aber er war nicht auffällig irgendwie.

Richter: Wie viel hat er denn getrunken? Hat er richtig geladen?

Zeuge: Nicht viel. Zwei, drei Bier. Was ich mitgekriegt hab.

Richter: Nach der Tat sind Sie – gemeinsam mit Ihrer Schwester – als einer der Ersten auf die Geschädigte, auf die Sandy, getroffen. Wie haben Sie sie da erlebt? Welchen Eindruck hat sie da auf Sie gemacht?

Zeuge: Die Sandy war sehr verstört. Durcheinander. Hat geweint, stark geweint. Sie trug keine Unterbekleidung mehr. Keine Hose, keine Unterhose.

Richter: Gar nichts?

Zeuge: Nein.

***

Nach der Tat liest Sandy ihre Kleider auf, zieht sich nicht an und rennt zum Auto, wo ihre Freunde sie wenig später treffen.

***

Richter: In welchem Verhältnis standen Sie zur Sandy?

Zeuge: Gut befreundet, würde ich sagen.

Richter: Und Sandy und der Angeklagte, Markus: In welchem Verhältnis standen die zueinander?

Zeuge: Die waren auch, so weit ich das beurteilen kann, gut befreundet.

***

Vor wenigen Wochen hatte Sandy am ersten Verhandlungstag selbst ausgesagt, wie sie der Freund ihrer besten Freundin vor einem Jahr vergewaltigt habe, nach dem Frühlingsfest im Mai. Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen.

***

Richter: Frau Liskow, Sie sind hier als Zeugin geladen, geboren 75, am 25. 11. Sie haben die Geschädigte gynäkologisch untersucht, als diese gegen 2 Uhr zu Ihnen ins Krankenhaus kam, wo Sie in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 2014 Bereitschaftsdienst hatten. Können Sie wiederholen, in welcher Verfassung die Geschädigte war?

Zeugin: Die Patientin war erschrocken. Erschöpft. Ihr Gesicht war gestaut, also: rot, blau. Eine Stauung lässt vermuten, dass sie gewürgt wurde. Mit Händen, einem Fremdkörper. Im gynäkologischen Bereich hatte sie keine und auch sonst keine weiteren Verletzungen außer einer minimalen Hautabschürfung.

Richter: Was hat Sie Ihnen erzählt?

■ Der Vorschlag: Bis spätestens Ende Juni will Justizminister Heiko Maas einen ersten Referentenentwurf für eine Reform des Vergewaltigungsparagrafen vorstellen.

■ Der Paragraf: Im geltenden Paragrafen 177 Strafgesetzbuch setzt eine Vergewaltigung voraus, dass der Täter Gewalt anwendet, dem Opfer droht oder es ausnutzt. Und dass dieses sich in einer schutzlosen Lage befindet. Im neuen Entwurf soll der Wille des Opfers eine größere Rolle spielen. Ein „Nein“ zum Geschlechtsverkehr könnte dann reichen, damit eine Vergewaltigung vorliegt. Der Paragraf soll auch Fälle berücksichtigen, in denen das Opfer beispielsweise aus Angst vor dem Täter keinen Widerstand leistete oder nur davon ausging, schutzlos zu sein, obwohl Hilfe erreichbar war.

■ Die Gegenstimmen: Juristische Fachverbände wie der Deutsche Richterbund und der Deutsche Anwaltverein halten die Reform nicht für nötig. Frauen seien ausreichend geschützt.

Zeugin: Sie hat erzählt, dass sie den Mann, einen Freund …

Richter: … Markus Faller.

Zeugin: Er war betrunken und sie hat ihn heimgeschleppt. Sie hat gesagt, sie hat was vom Sofa geräumt, damit er sich hinlegen kann. „Sachen.“

Richter: Und weiter?

Zeugin: Sie sagte, als sie wach wurde, hat sie etwas am Hals gefühlt und bemerkt, dass der Freund hinter ihr stand.

***

Richter: Wir haben hier Fotos von der Geschädigten, die ihre Schwellung und die Verfärbung des Gesichtes ganz deutlich zeigen. Wenn Sie mal nach vorne kommen möchten. Und vielleicht könnten Sie, als Sachverständiger, kurz erklären, was bei einer Stauung konkret passiert: Wird man da bewusstlos? Fehlt einem die Luftzufuhr?

Rechtsmediziner: Im Prinzip ist es so. Durch den Druck werden die Halsvenen komprimiert, das verhindert den Blutabstrom aus dem Kopf, während der Zustrom erhalten bleibt. Ein Stau führt zu jenem Blutaustritt in die Haut, den Sie hier auf den Bildern sehen. Es führt dazu, dass der Patient erstickt.

Richter: Würden Sie also sagen, für die Geschädigte bestand Lebensgefahr?

Rechtsmediziner: Es bestand eine konkrete Lebensgefahr, ja. Sie war zeitweise bewusstlos. Es hätte irreversible Gehirnschäden geben können. Sie wurde sehr lange gewürgt: Zwei Minuten, hat die Geschädigte geschätzt. Neben der massiven Stauung hatte sie keine Verletzungen am Hals – das lässt auf einen breitflächigen, weichen Gegenstand schließen. Auf ein Tuch oder einen Schal.

Richter: Sie haben den Angeklagten, Markus Faller, am Morgen nach der Tat selbst untersucht. Hat er da betrunken auf Sie gewirkt?

Rechtsmediziner: Nein, es gab keine Anhaltspunkte auf eine Alkoholisierung. Der Angeklagte ist normaler bis kräftiger Statur, 1,68 Meter groß, 76 Kilo schwer, er wirkte äußerlich unauffällig. Ich habe auch nichts gerochen. Etwa eine Stunde nach der Tat wurde bei ihm ein Wert von 0,76 Promille gemessen. Wenn man davon ausgeht, dass der Körper pro Stunde zwischen 0,1 und 0,2 Promille abbaut, erklärt das den BAK-Wert von 0,01 Promille zum Zeitpunkt der Untersuchung gegen 7 Uhr morgens. Das ist alles stimmig. Selbst wenn man großzügig zurückrechnet, der Körper etwas mehr abgebaut haben soll, erreicht man zum Tatzeitpunkt einen Wert von maximal 1,3 Promille.

Richter: Und das entspricht in Gläsern?

Rechtsmediziner: Ungefähr einer Aufnahme von zwei halben Liter Bier oder zwei Gläsern Wein. Damit ist die Anwendungsvoraussetzung für Paragraf 21, eine durch Alkohol oder sonstige Substanzen bedingte verminderte Schuldfähigkeit, noch nicht …

Verteidigerin: Zwei halbe Liter Bier, woher nehmen Sie das?

Richter: Lassen Sie den Sachverständigen bitte ausreden.

Rechtsmediziner: … noch nicht erfüllt.

Verteidigerin: Ich wollte erwähnt haben, dass die Zeugenaussagen, die bei der Polizei gemacht wurden – hinsichtlich des Alkoholkonsums vor dem Blütenfest – nicht eindeutig waren. Ihnen ist mitunter auch zu entnehmen, dass mehrere Flaschen Küstennebel und Kirschlikör auf dem Tisch standen. Zudem hatte mein Mandant am besagten Abend Zahnschmerzen. Er hat Paracetamol eingenommen, Schmerztabletten, von denen bekannt ist, dass sie in Wechselwirkung mit Alkohol treten.

Rechtsmediziner: Es fand sich lediglich ein diskreter Hinweis auf Paracetamol.

Verteidigerin: Diskreter Hinweis?

Rechtsmediziner: Im geringen therapeutischen Bereich. Paracetamol oder auch Ibuprofen werden, genau wie der Alkohol, über die Leber abgebaut.

Verteidigerin: Haben Sie Herrn Faller auch auf andere Medikamente getestet?

Ich war sechs, als meine Eltern sich scheiden ließen. Meine Mutter fragte mich, bei wem ich bleiben wollte. Ich entschied mich für sie. Mein Vater zog nach Thüringen. Ich habe ihn danach kaum noch gesehen. Meine Mutter und ich kamen bei meinem Stiefvater unter. Später zogen wir alle in eine Wohnung.

Mein Stiefvater ist fürsorglich, hört einem zu, nimmt einen wichtig, setzt sich ein. Und er kann sehr impulsiv sein. Aufbrausend und bedrohlich.

Er kann unheimlich gut reden. Selbst wenn er keine Ahnung hat, denkt man, er ist sonst wer. Er lässt andere kleiner wirken. Aber das habe ich erst später wirklich verstanden. Ich habe nie das Wort gegen ihn erhoben, das habe ich mich nicht getraut.

Mein Stiefvater ist Berufskraftfahrer, er war immer nur am Wochenende da. Meine Mutter musste mit meinem kleinen Bruder, dem Wurm, und mir alleine klarkommen. Das hat sie sehr verändert. Sie hat nur noch gemeckert. Wegen kleinster Dinge bekam ich Stubenarrest oder Ohrfeigen. Wenn ich nicht gut genug in der Schule war, hat sie geschrien. Ich habe eine recht ausgeprägte Lese-Rechtschreib-Schwäche. Gefühlt fünfmal habe ich den Duden abgeschrieben, bis ich die Wörter fast auswendig konnte.

Der Einzige, der uns zeitweise Aufmerksamkeit schenkte, war mein Stiefvater. Er war der Lichtblick. Er machte Fahrradtouren mit uns, Ausflüge in den Harz. Und ins Freibad, denn Schwimmen war mir das Liebste. Ich hatte damals bis zu sechsmal die Woche Training. Bei Wettkämpfen stand er am Rand und feuerte mich an.

Es fing so an: Nachdem meine Mutter schlafen gegangen war, schaute er kurz nach meinem Bruder. Er schaffte ein Bierglas weg und kam zu mir ans Bett. Er setzte sich neben mich. Er streichelte oder massierte mich. Ich war zwölf, dreizehn. Manchmal bekam er Angst und ging wieder. Manchmal ging es weiter, dann fasste er mich an erogenen Zonen an, zwang mich, ihn anzufassen oder wollte, dass ich ihm zusah.

Wenn ich geschrien habe, hielt er mir den Mund zu. Er hat mich gewürgt, nicht nur einmal. Noch heute habe ich Panikattacken. Ich habe versucht mich zu wehren, ihn wegzustoßen, mich wegzudrehen. Doch er war stärker, wenn er sich auf mich stützte, tat es weh. Irgendwann hab ich aufgegeben.

Mit sechzehn habe ich es meinem damaligen Freund erzählt. Ich wurde beim Tauchen ohnmächtig, dabei war ich die Beste in unserem Kurs. Er hat mich hochgeholt. Er hat nicht geglaubt, dass es ein Unfall war. Und ich glaube auch, ich wurde ohnmächtig, weil ich fliehen wollte. In meiner Familie hieß es: Pass dich an oder verschwinde! Ich konnte mich nicht mehr anpassen.

Manchmal denke ich darüber nach, ihn anzuzeigen. Aber ich habe Angst, dass mir niemand glaubt und die Beweislage nicht ausreicht. Und ich habe Angst um meinen Bruder. Er ist jetzt zwölf, das halte ich für kritisch. Mein Bruder ist mein Antrieb. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich öfter schon aufgegeben. Er ist Segen und Fluch. Wenn er nicht wäre, hätte ich mich vielleicht schon getraut, was zu tun. Einmal habe ich meinem Stiefvater Fragen gestellt. Er hat mich ausgelacht. Er meinte, ich wollte es doch auch, sonst hätte ich ja nicht so lange still gehalten.

Nach Ende meiner Ausbildung bin ich aus Leipzig weggezogen. Ich bin in psychotherapeutischer Behandlung. Bei mir wurde eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. ANGESTELLTE AUS CHEMNITZ, 21 JAHRE ALT

Rechtsmediziner: Es gab keinen Hinweis auf Drogen, falls Sie das meinen. Ihr Mandant soll ja auch Crystal Meth konsumiert haben, aber das ist Wochen, vielleicht Monate her.

Verteidigerin: Da müssen Sie mich falsch verstanden haben. Ich meinte: Medikamente.

Rechtsmediziner: Bei den Bluttests wird nur auf die gängigen Medikamente geprüft. Ein Ausschluss jeglicher Medikamente ist daher nicht möglich.

Verteidigerin: Ich bin keine Ärztin, vielleicht könnten Sie genauer ausführen, was Sie damit sagen wollen.

Rechtsmediziner: Damit will ich sagen: Ausgefallene Medikamente würden nicht erkannt.

Verteidigerin: Würden nicht erkannt?

Richter: Frau Kollegin?

2. Teil

Dritter Verhandlungstag, 9 Uhr. Zwei Polizisten führen den Angeklagten an seinen Platz. Die Beamten hängen bald in ihren Stühlen. Einer tippt auf seinem Smartphone, der andere döst weg. Nur als seine Sexualität thematisiert wird, regt sich Markus Faller selbst. Er schnauft laut, er windet sich. Dann scheint er wieder wie zuvor: reglos, die Schultern hängen.

Gutachter: Der Angeklagte Markus Faller gab zunächst an, sich nur bruchstückhaft erinnern zu können. Er könne sich gar nicht vorstellen, dass er das gemacht hat. Am 2. Mai, dem Tag vor der Tat, hat er ausreichend geschlafen, frühmorgens seine Freundin zur Arbeit gefahren und anschließend nochmals geschlafen. Gegen 8 Uhr hat er gefrühstückt, später den Rasen gemäht und um 15 Uhr seine Freundin wieder abgeholt. Mittags hat es Nudeln aus der Dose gegeben. Abends hat man zusammen mit Freunden getrunken, bevor man gegen 21 Uhr zum Blütenfest ging. Herr Faller hat dort bemerkt, dass er „doch deutlich einen sitzen gehabt“ hat. Er hätte auf dem Fest erst an einem ADAC-Stand einen „kostenlosen Vertrag“ abgeschlossen und hätte sich dann mit jedem „bewaffeln“ wollen, war also bereits in einer aggressiven Stimmung, als er sich mit seiner Freundin gestritten hat. Sie hat getanzt, mit einem oder mehreren Männern. Er kam sich von ihr abgestellt vor. Das war der Ausgangspunkt. Er hatte genug, die „Schnauze voll“ – mitten in diese Situation, in seine Kränkung und Alkoholisierung, kam die spätere Geschädigte, Sandy, hinzu. Ich habe ihn gefragt, wie er sich bewegt hat, er sagte: Er habe etwas geschlenkert. Sandy sei es gewesen, die ihm angeboten hat, ihn nach Hause zu fahren. Dort hat er sie gefragt, ob sie das Sofa mit bezieht. Dazu sagt er: Er glaubt, er hätte „die Scheiße gebaut“. „Dann habe ich den Schal genommen“, hat er gesagt, einen langen Winterschal – „ich glaube, ich habe die Sandy gedrosselt.“ Sie habe sich gewehrt und er habe sich gar nichts gedacht. Sandy sei bewusstlos geworden, er hat ihre Hose und ihren Slip ausgezogen und dabei „schon“ eine Erektion gehabt. Als er in sie eingedrungen ist, sei sie bei Bewusstsein gewesen. Sie soll plötzlich „das ist gut so“ gesagt haben, mit einer rauen Stimme, die ihm Angst gemacht hat. „Scheiße, was ist passiert?“, hat er da gesagt, und da sei er von ihr runter. Auf die Seite. Sandy sei aufgesprungen, habe ihre Sachen genommen und sei gegangen.

Richter: Das sind ja einige Dinge, die uns bisher nicht bekannt waren. War denn dieser ADAC-Stand real? Davon steht gar nichts in der Akte.

Gutachter: Ob es diesen ADAC-Stand wirklich gab, wissen wir natürlich nicht. Hätte ihn niemand gesehen, müsste ich sagen, Herr Faller hat halluziniert. Aber durch die Stop-Rewind-Technik – wenn man versucht, sich dem Erinnern zu nähern – können solche Details auftreten. Bei Herrn Faller habe ich außerdem keine Psychosen gefunden, keine Schizophrenie. Während der Schule wurde er durch ein störendes, oppositionelles Verhalten auffällig, seine Lehre im Metallbau hat er abgebrochen, er hat keine Ausdauer verspürt, er hat sich schlecht unterordnen können. Beziehungen hatte Herr Faller mehrere von kurzer Dauer, insgesamt acht. Die jetzige Beziehung sei eine „dramatische“ gewesen, er habe um diese Frau geworben, massive Verlustängste gehabt: Das ist die unsichere, ambivalente Bindung aus der Kindheit, die hier durchschimmert. Was seine Sexualität angeht, so ist sie für mich deutlich schambesetzt. Nicht offen.

Verteidigerin: Wie lange dauert das denn noch?

Gutachter: In der Jugend kam es etliche Male zum Komasaufen. Danach nicht wieder. Es ist davon auszugehen, dass Herr Faller zum Tatzeitpunkt nicht mehr an regelmäßigen Alkoholkonsum gewöhnt war – und davon, dass Herr Faller unter starken Selbstzweifeln leidet. Bei dem Angeklagten ist eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, wohl die eines Borderliners, festzustellen. Ob es sich hierbei um eine schwere, andere seelische Abartigkeit handelt, ist die schwerste Frage – und vom Gericht zu beurteilen.

Richter: Glauben Sie denn, eine solche liegt vor?

Gutachter: Nein. Herr Faller kann sich durchaus sozial anpassen. Allerdings liegt bei dem Angeklagten eine enorm leichte Kränkbarkeit vor, was eine Erklärung dafür sein könnte, wie es zu der Tat gekommen ist – gepaart mit massiver Eifersucht, letztlich: der Bedrohung seines männlichen Selbstbildes. Vermutlich war seine Tat der Versuch, ein Bild maskuliner Machterhaltung zurückzugewinnen. Und der Alkohol hat dabei enthemmend gewirkt.

Richter: Was können Sie zu Herrn Fallers Nachtatverhalten sagen? Er soll distanziert gewirkt haben, so als sei er gar nicht dabei gewesen.

Gutachter: Das Nachtatverhalten kann so erklärt werden, dass der Angeklagte erst nach der Tat realisiert hat, was er da gemacht hat.

Speed Dating, ich habe so was vorher nie gemacht. Es war im Dezember, ich war 51, ich hatte gedacht: Versuch’s mal, vielleicht triffst du ja einen Netten. Er war einer der Teilnehmer, denen ich sieben Minuten gegenübersaß. Hinterher konnte man online angeben, wen man noch mal treffen möchte. Der war doch ganz sympathisch, dachte ich. Zumindest interessant.

Ich habe ihn eingeladen. Er hat eine Flasche Wein mitgebracht und sogar Rosen. Ich weiß, dass wir seine Flasche geleert und eine zweite angebrochen haben und dass ich von beiden Flaschen wenig getrunken habe. Plötzlich saß er neben mir auf dem Sofa, sagte: Zeig mir mal das Schlafzimmer, und ich sagte: Das ist privat. Dann ging ich auf Toilette – und ab da fehlen mir große Stücke meiner Erinnerung. Ich habe den Verdacht, dass er mir in dieser Zeit etwas ins Glas gemischt hat.

Er drängte weiter, dass ich ihm mein Schlafzimmer zeigen soll. Vor dem CD-Regal bin ich irgendwie zusammengesackt, da hat er mich zum Bett geschoben. Es war ein bisschen wie bei einer ambulanten OP: Man bekommt mal was mit, dann ist man wieder weg. Solange ich etwas mitbekam, hatte ich den Eindruck, dass er alle Pornos, die er in den letzten Wochen gesehen hatte, an mir abgearbeitet hat.

Danach fragte er, wie’s mir gehe. Er sagte: Ich schlafe ziemlich unruhig, ich geh jetzt mal. Als ich aufgewacht bin, tat alles weh. Ich hatte Unterleibsschmerzen. Er ging nicht ans Festnetz, nicht ans Handy. Auf der Homepage der Speed-Dating-Agentur hatte er sein gesamtes Profil gelöscht.

Ich rief meine Freundin an, die eine Weile bei Wildwasser gearbeitet hat, der Beratungsstelle. Anzeigen bringt nichts, sagte die. Lass es sein.

Ich rief meine Tochter an. Sie sagte, Mutti, du gehst! Ich komm mit. Am nächsten Morgen sind wir zur Polizei und haben Anzeige erstattet. Sie konnten ihn gleich im System finden – er ist vorbestraft, wegen Körperverletzung. Die Beamten wirkten überfordert. Zum Glück war meine Tochter dabei, sie sagte: Machen wir das hier auf dem Flur oder könnten wir vielleicht in einen Raum?

Sie haben mich in die Charité geschickt, zum Urintest und zur Haaranalyse. Im Urin wurde nichts gefunden, K.-o.-Tropfen sind allerdings nur zwölf Stunden nachweisbar.

Die Polizisten sind noch mit zu mir in die Wohnung und haben Fingerabdrücke von der Weinflasche und den CDs genommen. Ich hatte den Eindruck, dass sie gegen mich ermitteln. Geben Sie’s doch zu, Sie waren einfach besoffen.

Trinken Sie regelmäßig? Wissen Sie, habe ich gesagt, wenn Sie mir nicht glauben, können wir’s auch lassen. Ich habe mich an eine Stelle gewandt, weil ich Hilfe brauche. Warum muss ich mich schlecht behandeln lassen?

Einmal bin ich hingefahren. Ich wollte wissen, wie er wohnt. Wedding. Hinterhof. Ich habe keine Angst, ihn zu treffen, weil ich denke, feiges Schwein, was der gemacht hat. Ich bin voller Hass. Ewig konnte ich nicht im Schlafzimmer übernachten, ich blieb immer im Wohnzimmer, das Radio oder den Fernseher an, als Geräuschkulisse.

Demnächst muss er bei der Staatsanwaltschaft aussagen. Käme es zum Prozess, würde ich ihn vor Gericht mit Blicken so fixieren! Ich würde alles mal rauslassen können. Denn die Ermittlungen sind so schleppend vorangegangen, dass ich nicht guten Gewissens sagen kann, anzuzeigen sei sinnvoll. Andererseits: Was nicht angezeigt wird, ist nicht passiert. BIBLIOTHEKARIN IN BERLIN, 53 JAHRE ALT

3. Teil

Die Verhandlung wird immer öfter unterbrochen, weil die Verteidigerin die Fähigkeiten der Sachverständigen anzweifelt. Woher man wisse, dass deren Urteil zu trauen sei? Ihre Anträge werden allesamt abgelehnt.

Richter: Weitere Fragen an den Gutachter? Frau Staatsanwältin?

Staatsanwältin: Nein.

Verteidigerin: Ich habe welche. Fangen wir doch mit dieser an – sagt Ihnen der Begriff Pygmalion-Effekt etwas?

Gutachter: Nee, da müssen Sie mir auf die Sprünge helfen.

Verteidigerin: Es geht mir um die psychologische Frage, ob mein Mandant die Dinge rückblickend hätte konstruieren können. Es zur Äußerung von falschen Erinnerungen gekommen sein kann.

Gutachter: Ich habe bis zur psychologischen Exploration hin auf Drucksituationen verzichtet. Habe keine Versprechungen gemacht, nichts.

Verteidigerin: Haben Sie ihn gelobt?

Gutachter: Nichts. Herrn Fallers intrapsychischen Zustand wollte ich neutralisiert wiedergeben und anschließend beurteilen. Und während der Sexualanalyse hat der Angeklagte durchaus die Fähigkeit gehabt, zu sagen: Dazu möchte ich nichts sagen.

Verteidigerin: Wie ist das zum Beispiel mit der Bekleidung der Geschädigten gewesen, kurz nach der Tat? In den Zeugenaussagen war Widersprüchliches darüber zu lesen. Manchmal: Ihr Oberkörper sei unbekleidet gewesen. Dann wieder: Nein, falsch, ihr Unterkörper sei unbekleidet gewesen. Kamen Ihnen da keine Zweifel?

Gutachter: Nein. In meinem Gespräch mit Ihrem Mandanten ging es vor allem um sein unbewusstes Motiv: Die totale Kontrolle über die Geschädigte zu haben, das Bild potenter Männlichkeit wiederherzustellen. Ob es einen Samenerguss gab, dazu sagte er allerdings, er weiß es nicht. Erst als die Geschädigte ihn mit bewundernswerter Schlagfertigkeit angesprochen hat – sie hat ihn ja noch gelobt, wie er sie nimmt: Da war seine Wahrnehmungsfähigkeit wieder da.

Verteidigerin: Können Sie mir dann vielleicht die Voraussetzungen für einen pathologischen Rausch nennen?

Gutachter: Ja, ein solcher Rausch setzt Alkoholintoleranz voraus – das ist genetisch bedingt, dass man bei geringer Menge Alkohol schon einen psychopathologischen Rausch herbeiführen kann. Ein bekanntes Beispiel, wo dies auftritt, ist bei der Population im Fernen Osten.

In meiner Erinnerung geht alles durcheinander. Darum bin ich auch nie zur Polizei gegangen. Wenn ich mir dauernd widerspreche, wäre das nicht besonders glaubwürdig. Trotzdem ist die erste Reaktion, wenn ich es erzähle: Warum bist du nicht zur Polizei? Die Leute sind fest davon überzeugt, dass so eine Tat in Deutschland verurteilt wird.

Es war ein Bekannter, ich war 15, er vier Jahre älter. Er war ein Mädchenschwarm. Ich war mir sicher, mir würde keiner glauben. Ich denke, er wusste genau, was er getan hat. Den Kontakt zu ihm und diesem Freundeskreis habe ich dann abgebrochen.

Ich habe heute noch Angst, dass ich ihn zufällig treffe. Bestimmte Sätze machen mir Angst. Oft sagt wer im Spaß: Du willst es doch auch.

Ich bin damals in eine Depression abgerutscht. Ich hab enorm viel Kraft für Kleinigkeiten gebraucht. Für meine Eltern sah das wohl aus wie pubertäres Gehabe.

Heute sehe ich mich als Feministin. Ich glaube, sexuelle Gewalt ist zum einen tabuisiert und zum anderen normal. Ich kenne kaum eine Freundin, die nicht fragwürdige Erlebnisse hatte und der es nicht schwerfällt, sich das einzugestehen. Es wird dann weggelacht: Komm, haben wir doch alle schon gehabt.

Zwei, drei Monate hat es gedauert, bis ich drüber geredet habe, nur mit einer Handvoll Leuten. Die tun dann so, als sei gerade mein Meerschweinchen gestorben. Erst tut es ihnen schrecklich leid, oh Gott, ist das schlimm! Aber wenn man noch mal ankommt, du, mir geht’s nicht so gut – dann wollen sie nichts mehr davon wissen. Ist halt ein anstrengendes Thema. Wenn ich es einem Typen erzähle, merke ich, wie der mich plötzlich mit ganz anderen Augen sieht, auf Abstand geht – ich fühl mich dann als die mit dem psychischen Knacks. Wobei Männer mehr Anteilnahme zeigen als Frauen. Frauen sind eher beschämt. Männer sagen: Wo wohnt der? Dem schicke ich mal meine Kumpels vorbei. Da muss ich fast lachen.

Von meinem Exfreund habe ich mich im Stich gelassen gefühlt. Ich hatte einen Therapieplatz bekommen und mir gewünscht, dass er mich begleitet.

Eigentlich stand ich nie davor, zur Polizei zu gehen. Obwohl ich mir gewünscht hätte, es einfach tun zu können. Aber ich habe keine Möglichkeit, es zu beweisen. Und ich wüsste nicht, wie ich das fertig bringen soll, Detail für Detail durchzugehen, wie das damals war. Völlig klar, dass mein Sexualleben ausgeschlachtet würde. Ich würde das demütigend finden. Allein die Vorstellung, ihm tatsächlich gegenüber zu stehen.

STUDENTIN AUS HAMBURG, 24 JAHRE ALT

Verteidigerin: Ich möchte bitte einen Antrag stellen. Um den Ablauf eines pathologischen Rauschzustands noch näher zu bestimmen, möchte ich die Meinung des Sachverständigen Herrn Doktor Rainer Schmächer einholen.

Richter: Wir haben hierzu bereits die Meinung eines Sachverständigen gehört. Wozu brauchen Sie eine zweite?

Verteidigerin: Herr Doktor Schmächer könnte zu dem Schluss kommen, dass sich mein Mandant in einem solchen Rauschzustand befand.

Richter: Frau Staatsanwältin, was sagen Sie?

Staatsanwältin: Ich beantrage, den Antrag abzulehnen. Die Hintergründe zum Tatgeschehen wurden von unserem hier anwesenden Sachverständigen umfassend beantwortet.

Verteidigerin: Auf einen Tag mehr sollte es jetzt auch nicht mehr ankommen.

Richter: Und was meinen Sie?

Rechtsmediziner: Es käme bloß zu Wiederholungen. Es gibt keine Anhaltspunkte für einen pathologischen Rauschzustand.

Gutachter: Ich halte einen pathologischen Rauschzustand für sehr unwahrscheinlich.

***

„Besonders schwere Vergewaltigung“, „gefährliche Körperverletzung“ und „Freiheitsstrafe von sieben Jahren drei Monaten“ wird im Urteil zu lesen sein. „Zugunsten des Angeklagten sprach, dass dieser bei der Tatbegehung alkoholbedingt enthemmt war und die Tat spontan begangen hat. Er führte mit der Geschädigten zwar ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr durch, kam allerdings (nur) außerhalb der Geschädigten zum Samenerguss.“

* Dieser Text basiert auf Mitschriften, Tonträger sind im Gericht nicht erlaubt. Nicht jeder Satz konnte daher im Wortlaut wiedergegeben werden, jeder aber sinngemäß. Zum Schutz der Geschädigten, des Beschuldigten und der Zeugen wurden alle Namen geändert.

Annabelle Seubert, 29, ist Redakteurin der taz.am wochenende