Microphone Mafia

MUSIK Warum sollten die Verbrechen der Nationalsozialisten die jungen Menschen heute interessieren, wenn sie gar keine deutsche Biografie haben? Die Vergangenheit geht alle an, sagt Rapper Kutlu Yurtseven von der Microphone Mafia. Denn für die Zukunft ist jeder verantwortlich

VON SVENJA BEDNARCZYK
UND DINAH RIESE

Kutlu Yurtseven steht in den Hochhausschluchten am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Der Fotograf tänzelt um ihn herum, platziert ihn für ein Foto vor einem der Plattenbauten. Der Fotograf fragt: „Ist die Straße dein Ding?“ Es gibt viele Schubladen, in die der Rapper mit Migrationshintergrund gesteckt wird, gegen die er versucht vorzugehen, doch diese ist in Ordnung für den 42-Jährigen. Ganz frei von Klischees ist man nie. „Rassistische oder sexistische Vorurteile haben wir alle“, sagt er. Aber es sei wichtig, sich dieser Vorurteile bewusst zu sein, an ihnen zu arbeiten. Yurtseven tut das: in seinem Job als Ganztagskoordinator mit den Schülern der Sekundarschule Hilden bei Düsseldorf. Und auf der Bühne mit der Rapkombo Microphone Mafia.

Sie waren zu sechst, als sie Ende der 80er Jahre in Köln anfingen, als Microphone Mafia zu rappen. Auf Deutsch, Türkisch, Italienisch, Neapolitanisch. Spätestens als sie sich mit dem Lied „Stop“ gegen Rassismus positionierten, hätten sie den Stempel der „Multikultiband“ aufgedrückt bekommen, sagt Yurtseven. „Eine politische Band waren wir damals aber noch nicht.“

Denn gegen Rassismus zu sein sei für sie nur logisch gewesen, sagt er – aufgewachsen als Kinder von türkischen und italienischen Migranten in der Zeit der Brandanschläge in Solingen und des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen. „Ein politischer Mensch ist aber der, der über seine eigene Betroffenheit hinausdenkt und Ungerechtigkeit und Diskriminierung anprangert“, sagt Yurtseven heute.

Über den Mikrokosmos hinaus

Ein politischer Mensch ist für Yurtseven auch die Frau, mit der er seit einigen Jahren auf der Bühne steht. Esther Bejarano, eine der letzten Überlebenden des Mädchenorchesters im Konzentrationslager Auschwitz, die trotz ihrer 90 Jahre noch immer als Zeitzeugin auftritt. Die sich aber auch auf eine Demo für die Rechte von Geflüchteten stellt oder die Polizeiaktionen gegen die Lampedusa-Gruppe in Hamburg eine „Schande für die Stadt“ und die europäische Asylpolitik „unmenschlich und inakzeptabel“ nennt. Mit ihren Kindern Edna und Joram Bejarano bringt sie seit Jahren ein Programm aus jüdischen und politischen Liedern auf die Bühne. „Sie ist eine Frau, die nicht nur in ihren Mikrokosmos guckt – obwohl sie alles Recht dazu hätte“, sagt Yurtseven.

Kutlu Yurtseven sitzt im Südblock, einem queeren Café am Kottbusser Tor, und trinkt Cappuccino. Am 8. Mai hat die Microphone Mafia hier mit Esther Bejerano ihren nächsten Auftritt. Inzwischen besteht die Band nur noch aus Yurtseven und seinem Kollegen Rossi Pennino. Das Datum ist für Yurtseven ein Feiertag. „Der Tag der Befreiung Deutschlands und des Beginns der Menschlichkeit. Oder viel mehr: Es hätte der Tag sein können, an dem die Welt menschlicher wird“, sagt er. Denn dass wir Erfolg hatten, daran zweifelt Yurtseven. „Der 8. Mai wird uns immer daran erinnern, was für eine einmalige Chance wir vertan haben“, sagt er.

Am Nebentisch trinken junge Männer in Sportjacken Pils, Discokugeln funkeln im Hintergrund. Es ist ein symbolischer Akt für die Microphon Mafia, an so einem Ort spielen zu können. Der Rapkombo wurde schon vorgeworfen, ihre Texte seien homophob. „Wir haben Sprüche wie ‚Schwuchtel MC‘ oder ‚In deinen Arsch, dummer Junge‘ in unseren Liedern benutzt“ – ohne sie zu reflektieren.

Yurtseven erinnert sich an ein Gespräch mit einem Bekannten vor vielen Jahren nach einem Konzert: „Ihr seid eine super Band“, soll er gesagt haben. „Aber ‚In deinen Arsch‘, das ist für mich keine Bestrafung. Für mich ist das Liebe.“ Das Lied mit der Zeile flog aus dem Bandprogramm.

Seitdem ist für Yurtseven die politische Arbeit ein Gesamtpaket über den eigenen Betroffenheitstellerrand hinaus. Er ist aktiv in der Initiative „Keupstraße ist überall“, die die Betroffenen des NSU-Anschlags in Köln von 2004 unterstützt, er ist auch Teil des Theaterprojekts „Lücke. Ein Stück Keupstraße“. Zudem arbeitet er mit Jugendlichen, im Deutschförderunterricht, in Rap-AGs und anderen Workshops. „Da sitzen lauter kleine Kutlus“, sagt Yurtseven, „die einfach in der falschen Zeit groß geworden sind“ und nicht so behütet aufwachsen konnten wie er.

Es geht um die Vermittlung von Wissen zwischen den Generationen. Auch bei seiner Musik. „Sobald man Verbrechen wie den Holocaust vergisst, können sie wieder passieren“, sagt Yurtseven. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, ob seine eigene Familiengeschichte mit Nazi-Deutschland verbunden ist oder nicht. Auch bei seiner Arbeit geht es nicht um die Schuld der heutigen Generation.

„Von meinen Schülern hat keiner Schuld an Hoyerswerda oder Rostock Lichtenhagen, geschweige denn am Holocaust“, sagt Yurtseven. Es gehe aber darum, diese Dinge zu benennen. „Esther sagt immer, ihr seid nicht schuld an dem, was passiert ist. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr euch nicht informiert.“

KZ-Texte rappen?

Die Geschichte dieser Bühnenkombo mit den Bejaranos beginnt 2009, als sich der Deutsche Gewerkschaftsbund in Nordrhein-Westfalen an Yurtseven wendet. Dieser hat damals im Förderunterricht mit seinen Schülern Texte von Schiller und Brecht gerappt. Man wolle über Rassismus und Rechtsextremismus in der Jugendkultur aufklären. Aber auch antifaschistische Musik vorstellen und die Erinnerungsarbeit modernisieren. Und Kutlu Yurtseven solle dabei sein.

Die erste Idee: Lieder und Texte aus den Gettos und Konzentrationslager zu rappen. Für Yurtseven stand aber von vornherein fest: „Ich mache das nur, wenn jemand dabei ist, der mir sagt, was ich machen kann und was nicht.“ Auf Rap habe er eigentlich gar keine Lust, soll Esthers Sohn Joram Bejarano damals zu ihm am Telefon gesagt haben. Doch Yurtseven und Pennino ließen nicht locker. Zusammen arbeiteten sie an Liedern mit der Bejarano-Band. „Ruf mal Mutti an“, sagte Joram Bejarano beim nächsten Telefonat zu Yurtseven. Beim ersten Gespräch verstand Esther Bejarano nicht. Mit „der Mafia“ wolle sie nichts zu tun haben, sagte sie. Und kurz darauf: „Das ist ja ein bekloppter Bandname.“

Zwischen Esther Bejarano und Yurtseven liegen knapp 50 Jahre, zusammen mit ihren Kindern stehen drei Generationen auf der Bühne. „Mit euch erreiche ich die Jugend“, soll Esther Bejarano mal den Rappern gesagt haben. „Damals war ich schon 35“, sagt Yurtseven und lacht. Aus den ursprünglich angedachten sechs Liedern wurden zwei Alben, aus ein paar geplanten Konzerten allein in den letzten drei Jahren über 200.

Beim ersten Studiotermin hat Esther Bejarano geweint. „Ihr erzählt genau das, was ich gefühlt habe“, sagte sie. Und dass sie nicht gedacht hätte, dass so etwas möglich sei – 60 Jahre nach ihren eigenen Erlebnissen.

Es ist eine besondere Form der Erinnerungsarbeit. „Als wir in der linksautonomen Szene spielten, wurde uns gesagt, wir sind nicht richtig linksradikal“, erinnert sich der Rapper. „Wir sind mit dem Projekt „Lücke. Ein Stück Keupstraße“ im Schauspiel, dann wird uns gesagt, wir seien keine richtigen Schauspieler. Und auch in der Erinnerungsarbeit wird uns gesagt, hier würden wir nicht reinpassen“, sagt Yurtseven. „Doch genau das ist vielleicht unser Vorteil.“

■ Bejarano & Microphone Mafia spielen am 8. Mai im Südblock in Berlin-Kreuzberg. Konzertbeginn ist um 19.30 Uhr