WIR:HIER

Kapitel 26

War er verliebt? Nicht so richtig, andererseits musste er oft daran denken, wie gut Laura roch

Matteo erzählte am Küchentisch von seinem Fascho-Cousin im Knast und davon, wie Laura und er die Pläne aus dessen Kinderzimmer geholt hatten. Er erzählte nicht, dass sie miteinander geschlafen hatten. Stattdessen von den Tunneln unterm Anhalter Bahnhof und den vermuteten Nazi-Schätzen, die zurückgelassen und vergessen wurden, als erst das Wasser und dann die Kapitulation kam; von dem Nachmittag in der Stabi und von dem Abend, als sie tatsächlich in die Vergangenheit hinabgestiegen waren. Kein Wort von der Panikattacke und nichts von seiner Mutter. Natürlich nicht!

Laura blieb merkwürdig ruhig. Wenn Matteo ihren Blick suchte, schaute sie in eine andere Richtung. Immerhin warf sie hin und wieder eine Ergänzung in den Raum.

„Der Nazi trägt Schlafanzüge mit Autos drauf“, sagte sie und „Die Frau in der Staatsbibliothek hat uns allen Ernstes ‚Mäuse‘ genannt“, und „Unter dem Innsbrucker Platz liegt noch ein zweiter geheimer U-Bahnhof.“ Die meiste Zeit aber spielte sie mit ihrem Zopf und grinste.

„Coole Idee, Matteo. Da will ich auch runter. Mit Goldstück.“ Szusza war mit funkelnden Augen ganz bei der Sache. „Und – habt ihr das Nazizeug gefunden? Gold? Schmuck? Waffen?“

„Nee, da ist überhaupt nichts. Nur Spinnweben, Pfützen und ein paar alte Sicherungen. Nicht mal Skelette.“

„Schade. Aber Laura hat ihren Contest so was von bestanden, oder? Dann kann sie entscheiden, was mit dem Bandwettbewerb ist.“

Die anderen nickten.

Eine Stunde später verabschiedeten sie sich.

„Kommt uns bald mal wieder besuchen und macht euch nicht so viel Sorgen um Cems Vater. Wir finden schon eine Lösung.“ Frau Demir legte eine Hand auf Szuszas Schulter. „Und du, du erzählst mir bald mehr von deinem Sport, ja?“ Szusza nickte glücklich, dann polterten die drei das Treppenhaus hinunter.

„Na, biste verknallt?“ Auf dem Weg zur U-Bahn stieß Laura freundschaftlich einen Ellbogen in Szuszas Seite, bevor sie sich bei ihr unterhakte.

„So ein Quatsch. Ich finde die Frau Demir nur echt nett. Und sie sieht super aus.“

„Wenn du meinst. Aber du hast geguckt, als wenn du am liebsten bei ihr auf dem Schoß gesessen hättest.“

Szusza blieb stehen. „Laura, du hast ein echt krankes Ding mit Müttern zu laufen. Erst Matteo mit Fragen nach seiner Mutter verrückt machen und jetzt bin ich dran, oder wie? Du hast eine Mutterfixierung. Und zwar eine ungesunde. Vielleicht sollten wir lieber mal über deine Alte reden. Es ist einfach cool, wie Frau Demir damit umgeht, dass ihr Mann im Knast sitzt. Im türkischen Knast. Ich würde durchdrehen. Und sie ist geschminkt, trägt ein Kleid und sieht trotzdem null tussimäßig aus. Meine Mutter – das interessiert dich bestimmt –, die ist mehr so wie ich.“ Sie zupfte zur Anschauung an ihrem verwaschenen Ramones-Glitzer-T-Shirt rum.

„Ach, lass mal. Ich will dich nur ärgern. Und außerdem hast du recht. Frau Demir ist ein Knaller.“

Szusza sah ihre S-Bahn von Weitem einfahren und begann zu rennen. „Bis morgen!“ Matteo begleitete Laura zur Bushaltestelle. Sie warteten an der Ampel unter dem Betondach der Mittelinsel, es regnete und war viel kälter als am frühen Abend.

„War doch okay, dass ich vor den anderen, mhm … ein paar Details ausgelassen habe?“

„Ja, sicher. Das mit uns, das war ja auch mehr so, ich weiß nicht, aber jedenfalls sind wir nicht ineinander verliebt, oder?“

Über ihren Köpfen fuhr die S-Bahn an, Matteo hatte in dem Lärm vielleicht gar nicht gehört, was sie gesagt hatte, und so fügte sie viel lauter hinzu: „Wir wohnen echt in der absolut hässlichsten Ecke von Berlin, ist dir das schon mal aufgefallen?“

Über ihnen spannte sich sowohl die Autobahn- als auch eine S-Bahn-Bücke. Der Innsbrucker Platz war zu groß, zu dunkel und zugig. Zwischen der großen Straßenkreuzung, der Autobahnauffahrt, S- und U-Bahn-Eingängen fühlte man sich automatisch unwohl. Von der schmutzigen Decke tropfte es, an den dicken Stützpfeilern stank es nach Urin.

„Was hast du gesagt?“

„Ach, nicht so wichtig. Nur dass es hier echt Scheiße aussieht. Ist ein bisschen wie im Tunnel hier, oder? Alles voll Beton.“

Matteo hatte ihre Frage sehr wohl gehört, er hätte nur keine Antwort gewusst. War er verliebt? Nicht so richtig, aber andererseits musste er ziemlich oft daran denken, wie gut Laura roch.

Die schubste ihn über die längst grün gewordene Ampel.

„Hast du noch Zeit? Ich muss dir was zeigen. Bei mir zu Hause.“

Matteo sah auf sein Handy, kurz nach halb zehn, eigentlich sollte er um zehn zu Hause sein, wenn am nächsten Tag Schule war. Egal, auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kam es nicht an.

Sie warfen ihre Jacken an die Garderobe, Laura schaute, ob ihre Eltern da waren – nein, waren sie nicht –, und schob ihn in ihr Zimmer. Sie griff in eine Schublade des Schreibtischs und setzte sich.

„Du hast es wegen deiner Panik im Tunnel nicht mitbekommen, aber wir, also ich, habe da schon was gefunden. Guck mal.“

In ihren Händen lag das damals eilig eingesteckte Kästchen. Laura hatte das weiche Metall poliert, mattrötlich glänzte der Deckel mit anspruchslosen Verzierungen. Sie setzte sich neben Matteo aufs Bett. „Neugierig?“ Er nickte, sie öffnete das Kästchen. Auf dem schmutzig weißen Stoff der Schatulle lag eine silberne Medaille, etwas größer als ein 2-Euro Stück, eine Murmel und ein militärisches Abzeichen aus Stoff.

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de