Keine Stunde null

MAI 1945 Vor 70 Jahren endete in Berlin der Zweite Weltkrieg. Aber war nun Frieden? Die Trümmer wurden weggeräumt, viele Traumata jedoch blieben. Zwei Zeitzeugen berichten über den Mai 1945 und die Wochen danach. Wie Berlin 1945 und 1946 aussah, zeigen eindrucksvoll die Fotografien des Iren Cecil F. S. Newman. Ein Fünf-Seiten-Special zum Kriegsende

8. Mai 1945: Der sowjetische Bezirkskommandant ernennt Nicolai Kickull zum Bezirksbürgermeister von Kreuzberg; in Wedding wird der Kommunist Hans Scigalla als Bürgermeister eingesetzt.

■ Im Offizierskasino der Festungspionierschule in der Rheinsteinstraße (Karlshorst) wird die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands unterzeichnet.

■ In Charlottenburg wird die erste Ehe nach Kriegsende geschlossen. Das Standesamt arbeitet seit dem 5. Mai. Das Brautpaar durfte zuvor nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ nicht heiraten.

■ Das Staatliche Verteidigungskomitee der UdSSR beschließt, Lebensmittelkarten nach Kategorien wie Schwerstarbeiter, Arbeiter oder Kinder auszugeben.

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VON UWE RADA
UND ROLF LAUTENSCHLÄGER

Jedes Land und jede Stadt in Europa hat sein 1945. Das Berliner 1945 bedeutete die Zerstörung einer Stadt, von der das Morden in Europa ausgegangen war. Die Bilder des Bombenkrieges und der Trümmer sind fest im Bildgedächtnis Berlins verankert. Vage ist dagegen die Vorstellung davon, wie sich das Leben in den Wochen nach der Kapitulation vom 8. Mai 1945 anfühlte. Wann die ersten Straßenbahnen wieder fuhren. Wo die alten Nazis blieben. Wie die Sowjets das politische Leben prägten, bevor am 1. Juli 1945 die Westalliierten in die Stadt einrückten.

„Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?“, schrieb fragend einmal Christa Wolf.

Bezogen auf Berlin 1945 müsste es heißen: Wir wissen, wann der Krieg endet, aber wann kann man von Frieden sprechen? Im Berliner Mai 1945 überlagerten sich viele Ereignisse und Erfahrungen. Die einen fühlten sich von der Roten Armee, die am 21. April die Stadtgrenze erreichte, befreit, konnten ihre Verstecke verlassen – sie hatten überlebt. Andere, vor allem Frauen, wurden nun erst zu Opfern.

Und schließlich begann mit dem 8. Mai 1945 auch das Ringen um die politische Zukunft Berlins. Der Magistrat, den die Sowjets einsetzten, regierte zwei Jahre lang die gesamte Stadt. Die Teilung kam erst schleichend.

Oft ist vom Mai 1945 als Stunde null gesprochen worden. In dieser Erzählung steckte der Wunsch nach einer kathartischen Reinigung; dem Neuanfang in Berlin sollte nichts im Wege stehen.

Tatsächlich gab es diesen Neuanfang. Eindrucksvoll zeigen die Fotografien des Iren Cecil F. S. Newman, wie das Leben in der Trümmerstadt erwachte. Noch war der Topos der „Trümmerfrau“ nicht geboren – aber die, die den ganzen Schutt wegräumten, das waren für Newman Helden des Wiederaufbaus (siehe Seite 46, 47).

Doch gereinigt war Berlin, in dem vor 70 Jahren nur noch 2,8 Millionen der einst 4,3 Millionen Einwohner vor dem Krieg lebten, noch lange nicht. Das zeigen die Geschichten von Margit Siebner und Günter Böhm (siehe Seite 43, 44). Siebner, geborene Cohn, berichtet, wie ein Nachbar ganz beiläufig sagte: „Ach, dich gibt es auch noch?“

Der Berliner Mai 1945 war eine Zäsur, eine Stunde null war er nicht. Vielmehr war er von vielem einiges: Kriegsende, Befreiung, Überlebenskampf. Nachkrieg, ja. Und manchmal auch schon etwas wie Vorfrieden.