WIR:HIER

Kapitel 25

Am Nachmittag musste Laura im Mieterverein arbeiten. Richtig verstanden hatte sie immer noch nicht, was mit Cems Vater geschehen war. Nur, dass es um ziemlich viel Geld und den türkischen Militärdienst ging. Als sie die Eingangstür hinter dem letzten Ratsuchenden für diesen Nachmittag abschloss, fragte sie den Anwalt, der sich neben Mietrecht auch ein wenig im Ausländerrecht auskannte.

„Um es dir ganz genau zu erklären, müsste ich nachschlagen, aber im Grunde ist es so: Jeder, der einen türkischen Pass hat, muss für 15 Monate zum Wehrdienst. Oder er zahlt dem Staat eine Entschädigung. Das machen die meisten Deutschtürken. Weil sie nicht an die irakische Grenze oder ins Kurdengebiet geschickt werden wollen, weil sie in Deutschland leben und arbeiten, oder einfach, weil sie Besseres mit sich anzufangen wissen, als über ein Jahr Soldat zu sein. Ist ein Bombengeschäft für den türkischen Staat. Muss man nur mal ausrechnen: 10.000 Euro mal jedem deutschtürkischen Jungen. Herr Demir hat vermutlich bisher weder bezahlt noch gedient und wird mit seinem deutschen Pass eingereist sein, um nicht wegen Fahnenflucht festgenommen zu werden. Klappt meistens, aber eben nicht immer. Pech gehabt.“

„Und was kann man da jetzt machen?“

„Zahlen. Solange die Familie kein Geld überweist, bleibt er aller Voraussicht nach in Haft.“

„Das ist Erpressung. Was sagt das Konsulat dazu? Die müssen doch Einspruch einlegen! Er ist schließlich Deutscher.“ Der Anwalt zuckte resigniert mit den Schultern. „Tja, es müsste so viel geschehen. Tut es aber nicht.“

Laura bedankte sich und schickte eine Nachricht an die Mitglieder von Goldstück: „Sofort treffen! 19:30 Shisha-Bar. Alle!“

„Geht nicht. Ich muss bei meiner Mutter bleiben. Aber ihr könnt herkommen. Cem.“

„Okay, in einer halben Stunde bei dir?“

„Einverstanden.“

Szusza, Matteo und Laura kamen fast gleichzeitig an und liefen zusammen das Treppenhaus hoch. „Eigentlich komisch, dass wir noch nie hier waren, oder?“

Szusza war bereits ein halbes Stockwerk schneller und beugte sich über das Geländer. „Na ja, geht so, bei mir wart ihr auch noch nie. Muss auch nicht sein.“

Sie klingelten, Cem öffnete, sie zogen ihre Schuhe aus und folgten ihm in die Küche, in der seine Mutter am Tisch saß.

„Schön, euch mal kennenzulernen. Setzt euch. Du musst Laura sein und du bist sicher Szusza, stimmt’s?“

Szusza schnappte laut hörbar nach Luft und konnte nur mühsame Zustimmung stottern. Sie hatte nicht erwartet, dass Frau Demir so schön war und gleichzeitig auf der Stelle überwältigend sympathisch wirkte. Sofort wollte sie für immer hier bleiben, um sie weiter anzustarren.

„Du machst Kampfsport, hat Cem erzählt.“ Szusza nickte eifrig. „Ja, MMA. Ist so ähnlich wie Boxen. Oder nee, mehr wie Karate. Nee, eigentlich wie beides. Aber mit komplett andere Regeln.“ Oh mein Gott! Hatte sie wirklich „mit komplett andere Regeln“ gesagt? Wie megapeinlich.

„Du brauchst du auf der Straße keine Angst haben. Das ist für jede Frau gut. Macht ihr auch Wettbewerbe?“ Szusza nickte und wollte jetzt nicht nur für immer hier bleiben, sie wollte von Frau Demir adoptiert werden. Ihre eigene Mutter hat noch nie nachgefragt, was für einen Sport sie eigentlich genau machte.

„Ihr habt sicher einiges zu besprechen und ich muss mich noch um so vieles kümmern. Cem, koch Tee für deine Gäste, im Kühlschrank stehen Sigara Böreği.“ Sie nahm ihren Laptop vom Tisch und ging in ein anderes Zimmer. Szusza unterdrückte den Drang, ihr wie ein Hündchen zu folgen, stattdessen grinste sie Cem an. „Du hast ja voll die coole Mutter. Die ist total hübsch. Nur schade, dass du in der Hinsicht so gar nichts von geerbt hast.“

„Dein Vater muss 10.000 Euro zahlen?“

Cem nickte. „Wir Türken wissen das ja vorher. Aber meine Familie hat in den letzten drei Jahren für meinen Bruder gezahlt. Und für die Hochzeit meiner Cousine. Für die Beschneidungen meiner Neffen. Und dann ist mein Onkel mit seinem Laden pleitegegangen und die Familie hat zusammengelegt. Mein Vater wollte auch nicht so lange in der Türkei bleiben, das war nur wegen meiner Oma.“ Er stellte Tee, Cola und Gläser auf den Tisch. „Ihr hört davon noch nie was gehört, oder?“

Die anderen sahen betreten zu Boden. „Nee, da hab ich mir keine Gedanken drüber gemacht. Ihr erzählt auch nie was.“

Szusza reagierte sofort auf Lauras Kommentar. „Tolle Entschuldigung. Wie lange leben Türken in Deutschland? Da kann man doch erwarten, dass …“

„Aber wenn ich gar nicht weiß, wonach ich fragen sollte?“

Cem winkte ab. „Ist egal. Die Familie schafft das schon. Anderes Thema: Was macht der Contest?“

Szusza hörte nicht auf ihn.

„Heute Mittag in der Aula, das war so geil. Du hättest sehen müssen, wie Herr Clausen nicht mehr wusste, was er sagen sollte, weil von allen Seiten die Fragen kamen. Voll die knallrote Birne. Blink. Blink. Und Leo dann: „Ich finde, es ist ungerecht, dass ich nur einen Pass habe.“ Ich hätte mich in die Ecke schmeißen können. Das war SO lustig!“ Sie kicherte in sich hinein, das hatte sie noch loswerden müssen. „Na gut, zum Bandwettbewerb: Wenn wir gewinnen, kriegt Cems Vater das Geld. Oder, Matteo? Bist du da anderer Meinung?“ Sie sah Matteo herausfordernd an.

„Das ist doch erst in zwei Monaten. Bis dahin soll sein Vater im Knast bleiben? Das bringt doch überhaupt nichts.“

Cem wurde lauter. „Hört mal auf. Echt, ey. Ich will lieber endlich wissen, was für eine Mutprobe du dir für Laura ausgedacht hast.“

Und jetzt erzählte Matteo von den Tunneln unterm Anhalter Bahnhof.

„Laura hatte nicht erwartet, dass Frau Demir so schön war und überwältigend sympathisch“

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de