Die „Testeritis“ grassiert erneut

TESTWAHN II Deutsche Schulen im Dauerstress: Mehr als 56.000 Schüler müssen zeigen, was sie draufhaben. Doch Prüfungen allein sorgen noch nicht für besseren Unterricht

Wie sinnvoll ist es, das finanzstarke Bayern mit dem finanzschwachen Bremen pauschal zu vergleichen?

BERLIN taz | Es geht wieder los: der internationale Testklassiker Pisa der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) startet in diesem Monat an deutschen Schulen. Gleichzeitig beginnt eine neue Runde im innerdeutschen Länderleistungsvergleich der Kultusministerkonferenz (KMK). Bis Mitte Juni werden eigens geschulte Tester – häufig Pädagogik- und Psychologiestudierende – bundesweit über 2.000 Schulen besuchen.

Der aktuelle Testmarathon trifft die Schulen ausgerechnet in einem Jahr, in der die Kultusminister an einer neuen Gesamtstrategie zur Qualitätssicherung in den 16 Bundesländern basteln. Nach zwei internen Fachgesprächen soll bis Sommer ein beschlussfähiger Entwurf vorliegen.

Nicht nur der neue Bildungskoordinator der SPD-geführten Bundesländer, Hamburgs Schulsenator Ties Rabe, wünscht sich von der Wissenschaft künftig weniger beschreibende Berichte, sondern mehr Ursachenforschung und Hinweise, wie Mängel abgestellt werden können. Die üblichen Leistungsrankinglisten der Bundesländer sollen zwar nicht gänzlich verschwinden, gleichwohl aber stärker in den Hintergrund treten. Stattdessen will man mehr darüber wissen, warum beispielsweise in dem einen Bundesland die schulische Integration von Migrantenkindern besser klappt als in einem anderen. Wie sinnvoll ist es auch, Länder wie das finanzstarke Bayern mit so finanzschwachen wie Bremen pauschal bei einem Leistungsranking zu vergleichen – bei jeweils völlig unterschiedlichen Sozial- wie Migrationsproblemen?

Doch bisher pochten die Kultusminister stets auf „deskriptive Diagnosen“. Die Politiker wollten von den Auftragsforschern keine Handlungsempfehlungen. Zwischen politischer Administration und den Wissenschaftlern hatte es hinter den Kulissen oft genug geknallt, wenn in Textentwürfen der schmale Grad zwischen Problembeschreibung, Ursachenanalyse und dem Aufzeigen möglicher Konsequenzen auch nur annähernd überschritten worden war.

Beim internationalen Pisa-Test wollen die Kultusminister zwar auch bei der nächsten Runde in drei Jahren wieder teilnehmen. Gleichwohl schimmern in Gesprächen vor allem mit konservativen Ministern immer wieder Vorbehalte gegen die OECD durch. Denn der internationale Pisa-Koordinator Andreas Schleicher hatte es zu oft gewagt, die deutsche zergliederte Schulstruktur zu kritisieren.

Im OECD-Vergleich teilen nur noch Deutschland und Österreich Zehnjährige unmittelbar nach der Grundschule auf die verschiedenen Schulformen auf – weltweit ist längeres, gemeinsames Lernen angesagt. Nach dem Willen der KMK soll es – anders als noch bei den Pisa-Runden 2000, 2003 und 2006 – keine detaillierten Bundesländervergleiche unter dem OECD-Dach und deren Aufgabenstellung geben.

Die KMK sieht einen Schwerpunkt ihrer künftigen „Qualitätssicherungsstrategie“ vor allem in den Tests durch das ländereigene Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) – auf der Basis der inzwischen für alle Bundesländer verbindlichen Bildungsstandards. Sie sind eine Konsequenz aus dem ersten miserablen deutschen Pisa-Abschneiden im Jahr 2000 und beschreiben, was ein Schüler am Ende einer Jahrgangsstufe im jeweiligen Fach beherrschen muss.

Ob und wie sie diese Standards erfüllen, müssen Schüler zusätzlich zu den nationalen und internationalen Tests in jährlichen Vergleichsarbeiten, den Vera-Tests, zeigen. Und zwar bundesweit. Aktuell sitzen die Drittklässler der Grundschulen über ihren Vera-Tests, im Februar bearbeiteten die Achtklässler Aufgaben aus den Bereichen Lesen, Rechnen oder Fremdsprache.

Die Vera-Tests stehen bei den Lehrergewerkschaften und -verbänden besonders in der Kritik. Die Leistungen würden erhoben, doch bei erkannten Schwächen gebe es für die Schulen in vielen Ländern kaum Hilfe und Unterstützung. Testen also allein als Selbstzweck?

Bei den Pisa-Tests geht es dagegen vorrangig um die Lösung von Aufgaben aus dem Alltag, bei denen die Jugendlichen etwa Wissen und Fähigkeiten verschiedener Disziplinen miteinander verknüpfen müssen.

Reiht man im Bücherregal die innerdeutschen Schulstudien seit 2000 aneinander, so reichen drei Meter Platz kaum aus. Fazit: Es gibt kein wissenschaftliches Erkenntnisdefizit über die deutschen Schulen – wohl aber ein Handlungsdefizit.

KARL-HEINZ REITH