Und nun das Meer

PASSAGE An der libyschen Küste warten Zehntausende Migranten aus Westafrika auf die Überfahrt nach Europa. Wie gefährlich die letzte Etappe ist , wissen sie. Aber einen Weg zurück gibt es für sie nicht

■ Bürgerkrieg: Seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 herrschen in Libyen Chaos und Gewalt. Im vergangenen Sommer eroberten islamistische Milizen die Hauptstadt Tripolis und bildeten eine eigene Regierung. Die international anerkannte Regierung und das Parlament flohen nach Tobruk im Osten.

■ Flucht: Die Kämpfe haben eine Massenflucht ausgelöst. Seit Mai 2014 haben nach Angaben des Roten Halbmonds 100.000 Libyer das Land verlassen, 126.000 sind nach Tripolis geflohen. Insgesamt wurden mehr als eine halbe Million Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Der Zerfall der Strukturen ist so weit, dass den Migranten aus Westafrika de facto nur der Weg über das Meer bleibt.

AUS TRIPOLIS MIRCO KEILBERTH

Die Stimme am Handy klingt hart, sie verliert nicht viele Worte. „Um 17 Uhr an der Brücke in Gargaresh“, sagt sie. „Kein Gepäck, 1.000 Dinar.“ Es geht los. Die letzte Etappe nach Europa. Die gefährlichste.

Auf der Ladefläche eines Pick-up gedrängt geht es in ein Versteck, meist ein leer stehendes Wochenendhaus einer Familie aus Tripolis, am Strand zwischen Tajoura und Garabuli. Dann heißt es Warten, bis die Nächte klar sind und die Wellen klein. Und bis ein Schiff auftaucht, ein Gummiboot oder ein alter Fischerkahn.

Tage, vielleicht eine Woche verbringen die Migranten ohne Verbindung zur Außenwelt am Strand. Dann, wenn die Sterne sich in den schwarzen Wellen spiegeln, müssen sie plötzlich zu den Gummiboten im knietiefen Wasser sprinten, Frauen und Kinder voran, „keinen Laut“, warnen die Libyer mit Kalaschnikows im Anschlag.

Kosy Iken kennt einige von denen, die am vorigen Wochenende auf dem Weg nach Garabuli waren, zu dem Unglücksboot, dessen Untergang die schwerste Schiffskatastrophe in der jüngeren Geschichte des Mittelmeers hervorrief. Der 23 Meter lange Kutter kenterte vor der libyschen Küste. Nur 28 der vielen hundert Flüchtlinge, teils eingesperrt im Laderaum, überlebten.

Keiner ihrer Bekannten geht mehr ans Telefon, wenn Kosy anruft. Die Frau mit dem offenen Blick hält sich an die Vorstellung, dass sie vielleicht noch am Strand sitzen und warten. Telefonieren dürfen sie dort nicht. Das Kommunikationsverbot der libysch-nigerianischen Schmugglermafia ist streng. Und auch Kosy Iken weiß nicht, welches Gefährt es sein wird, mit dem sie in ein paar Wochen ins Mittelmeer aufbrechen wird. „Aber alles ist besser, als hier zu bleiben“, sagt sie.

Kosy Iken, Lawrence Okundu und Pius Dingueke haben die Fahrt noch vor sich, alle stammen sie aus Nigeria. Vor zwei Jahren hatte Lawrence Okundu es endgültig satt, wie schlecht ihn sein Chef behandelte. Er arbeitete an der Rezeption eines kleinen Hotels in der nigerianischen Stadt Enugu. Und als ein Mann ihm in einem Cafe erzählte, wie einfach es sei, nach Europa zu fahren und dort einen Job zu finden, glaubte er, die Tür zu einem besseren Leben sei aufgestoßen.

„Vielleicht sah mir der Boga-Mann an, dass ich Umgang mit Europäern im Hotel hatte“, sagt der Mann mit den kräftigen Oberarmen heute. Boga-Männer nennen die Nigerianer die Vermittler der Schleuseragenturen, die wohl alleine letztes Jahr mehr als 170.000 Menschen aus Westafrika über Libyen nach Europa gebracht haben, dreimal mehr als noch vor drei Jahren. In ein besseres Leben? So einen guten Job wie in Enugu wird er wohl nie wieder bekommen, glaubt Okundu jetzt, und dabei ist er noch gar nicht am Ziel.

800 Euro sollte die erste Etappe Richtung Tripolis kosten – die ganze Fahrt führt über 4.000 Kilometer vom tropischen Nigeria bis zur Mittelmeerküste. Dazwischen liegen die Sahelzone, die Wüsten der Sahara, liegt die bitterarme Republik Niger und der Süden Algeriens, Rückzugsgebiet von Tuareg-Rebellen und islamistischen Terroristen.

Das Geld hatte der 25-Jährige eigentlich für eine spätere Heirat zurückgelegt, aber egal, so eine Chance kommt nur einmal.

Nun sitzt Lawrence Okundu ohne Auskommen in Tripolis, Hauptstadt eines Landes im Bürgerkrieg. Vergangenes Wochenende geriet er zufällig in eine Schießerei im Stadtteil Ben Ashour, wo die islamistischen Milizen von Abdulrauf Kara gegen „Drogendealer“ vorgingen, wie sie die liberalen Anhänger der Karama-Militärallianz aus Ostlibyen nennen.

„Die Fahrt hier hin war schon schlimm, aber seit Beginn des Konfliktes im vorigen Sommer muss ich mich sogar vor Kindern mit Waffen fürchten“, sagt er.

Einmal in der Woche treffen sich die Migranten von Tripolis im Garten der Kirchengemeinde des Distrikts Daha. Okundu diskutiert mit seinen Freuden über das große Schiffsunglück. Viel wissen die Nigerianer nicht darüber. Nur wenn Freunde aus Italien darüber berichten. „Ich habe keine Wahl“, sagt er. „Wegen des libyschen Bürgerkriegs gibt es keinen Weg zurück.“

Dicht gedrängt auf dem Pick-up durch die Wüste

Die Schlepperagenturen in Westafrika preisen unterdessen die hohen Löhne in Libyen. Und wenn im Fernsehen wieder von einem Schiffsunglück die Rede ist, kontern sie mit dem Argument, die Vereinten Nationen würden sich um die Schiffbrüchigen auf hoher See kümmern. Die Horrormärchen vom Ertrinken im Mittelmeer? Von den europäischen Regierungen lanciert.

Lawrence Okundu macht sich keine Illusionen. Er weiß, welches Risiko er mit der Überfahrt nach Italien eingehen wird. Und will sich nächste Woche trotzdem auf den Weg machen. „Ich verliere lieber mein Leben bei dem Versuch, ein besseres zu führen, als zufälliges Opfer von Milizen zu werden“, sagt er.

Okundus Reise begann vor zwei Jahren. Seine Mitreisenden kamen aus Gambia, der Elfenbeinküste, aus Liberia oder Ghana. Tausende Westafrikaner machen sich jeden Monat in normalen Linienbussen auf den Weg nach Agadez, dem Verkehrsknoten im Niger kurz vor der großen Wüste. Von dort aus starten die Konvois durch die Sahara nach Libyen.

Seit die „Boga-Männer“ nach dem Sturz Gaddafis Ende 2011 aktiv für die Route über den Niger und Libyen nach Europa werben, ist die Zahl der Reisenden um das Dreifache gestiegen. Das Boga-Netzwerk besteht aus lange im Nordafrika ansässigen Nigerianern, libyschen Milizen, Werbern vor Ort, tunesischen und ägyptischen Kapitänen und sizilianischen Mafiagruppen.

Okundu kennt viele Flüchtlinge, seit über einem Jahr trifft er sie regelmäßig. Er schätzt, dass ein Drittel mit besonderen Angeboten auf die Fahrt in den Norden gelockt wurde. Die Kosten von 30.000 Euro könnten sie mit ihrem üppigen Lohn in Italien später locker abstottern, behaupten die Boga-Männer.

Victor Osa aus Liberia ist seit einigen Tagen in der libyschen Hauptstadt. Er erinnert sich gut an den Montagmorgen in Agadez, als die bislang letzte Etappe seiner Reise begann. Wie jede Woche setzt sich gegen 10 Uhr ein Konvoi von 25 Wagen in Bewegung. Auf den Ladeflächen der Toyota-Hillux-Pick-ups sind 20 bis 25 Menschen auf dem Weg in ein besseres Leben. Sie liegen teilweise übereinander, Beine und Arme hängen über die Ladefläche, es wird nicht viel gesprochen. Den ersten Schock haben die meisten bereits hinter sich: für privates Gepäck ist kein Platz. „Der Fahrer warf den Rucksack einfach über Bord“, erinnert sich Victor.

Zwischen drei Tagen und einer Woche geht es durch eine der heißesten Wüsten Afrikas, in starrer Bewegungslosigkeit.

Die einsame Brigade im Grenzgebiet

Soldaten von Nigers Armee begleiten die Konvois für ein Handgeld von 300 libyschen Dinar pro Fahrzeug, umgerechnet 150 Euro. An den Kontrollpunkten Wadi Thuraya reichen die Tuareg-Fahrer wieder 15 Euro durchs Wagenfenster, in Sodugum weitere 15, in der Stadt Dorku 135. Längst hat sich eine Migrationsökonomie entlang der Route entwickelt, man geht geschäftsmäßig miteinander um, auch die Reisenden wollen, dass alles reibungslos abläuft.

Seitdem sich kriminelle Banden mit der Marke „Boko Haram“, der islamistischen Terrorarmee aus Nigeria, noch mehr Respekt unter den Menschenschmugglern verschafft haben, sind die Schutzgelder der Armee gestiegen. Denn auch sie hält einige militante Gruppen mit Geld ruhig.

„Die Organisation läuft wie ein Uhrwerk“, sagt Lawrence Okundu. Nur im Sommer, hören sie, würden immer wieder Menschen nach Fahrzeugpannen oder Unfällen verdursten. Die Grenzen der Sahara sind unsichtbar, aber nur für die Schmuggler durchlässig. 70 Kilometer Niemandsland, auf eigene Faust unüberwindbar, trennen die nigrischen und libyschen Grenzposten.

Shahafedin Barka patrouilliert mit seiner Truppe libyscher Revolutionäre nördlich des Niemandslandes. In der Oase al-Qatrun laufen die fünf passierbaren Routen aus Niger nach Libyen zusammen. Und lange war seine Brigade die einzige, die Migranten aufgriff und bei der Behörde für illegale Immigration in Murzuk für die Abschiebung registrierte.

Aber seit dem libyschen Krieg von 2011 ist alles anders. Seit vier Jahren hätten sie keinen Kontakt zu den Grenzern des Niger mehr, sagt Barka heute. „Niemals in den letzten vier Jahren haben wir irgendetwas aus Tripolis oder Europa gehört oder gesehen. Es kam weder Hilfe noch ein Dankeschön.“

Das änderte sich auch nicht, als im Januar die französische Armee im Niger auftauchte. Sie schlug im nigrischen Grenzort Madama ein Militärlager für 1.000 Soldaten auf, als Teil der französischen Sahel-Operation „Barkhane“, die Islamisten und Schmuggler grenzüberschreitend bekämpfen soll.

Mit Helikoptern und Drohnen überwachen die ehemaligen Kolonialherren nun das berüchtigte „Salvador-Dreieck“ im Grenzgebiet zwischen Algerien, Libyen und Niger. Es ist der Haupt-Umschlagplatz für Drogen und Waffen, dort verläuft der sogenannte „Dschihad Highway“ vom libyschen Bengasi bis nach Mali. Erst vorige Woche setzten französische Fallschirmjäger einen Drogentransport fest, der angeblich im Auftrag des Islamisten Mokhtar Belmokhtar unterwegs war. Genaues weiß niemand. Sicher ist nur, dass mit dem Zusammenbruch Libyens in der Sahara Menschen-, Drogen- und Waffenschmuggel aufblühen, in unterschiedliche Himmelsrichtungen und doch vermischt.

Die „Asma Boys“ von Tripolis

Europa scheint sich für keines der Probleme wirklich zu interessieren, wundert sich Barka, dabei verlaufen die Grenzen Europas letztlich doch hier. „In Sichtweite des Armeecamps fahren die Menschenschmuggler nach Norden vorbei. Die Franzosen halten sie nicht auf. Warum sollten wir es dann machen?“

Wenn die Migranten Tripolis erreichen, haben sie meist kein Geld. Sie müssen arbeiten, um die letzte Etappe der Reise zu finanzieren – nach Europa. Als Pius Dingueke, der stille Mann aus dem südnigerianischen Bundesstaat Anambra, endlich Libyen erreicht hatte, dauerte es zwei Jahre, bis er einen Arbeitgeber fand, der ihn gut und regelmäßig bezahlt.

Die langen Wartezeiten an der Straßenkreuzung an der Gargaresh-Brücke, dort wo Dutzende, manchmal Hunderte Schwarzafrikaner ihre Arbeitskraft anbieten, nutzte der Nigerianer dafür, Arabisch zu lernen. „Dass ich mit dem Boss der Wartungsfirma über technische Details der Klimaanlagen sprechen konnte, hat sich ausgezahlt“, sagt er.

In fast jedem der vielen Werkstätten, Möbelläden und Lagerhäuser des Industriegebietes von Tripolis arbeiten junge Männer aus Afrika südlich der Sahara. Von den 500 Euro, die Pius Dingueke am Monatsende erhält, bleibt ihm kaum etwas übrig. Eigentlich wollte der 26-Jährige ein Drittel davon für die Überfahrt nach Lampedusa sparen. Er weiß mittlerweile nicht mehr, welche Angst größer ist: die vor den Seelenverkäufern oder vor den Jugendlichen, die in Ras Hassan die Gegend noch unsicherer machen.

„Asma Boys“ werden die Jugendgangs genannt. Sie hängen an den Straßenecken hinter ihren Autos ab und besänftigen ihren Frust mit dem Aufputschmittel Tremadol. Auf die Migranten, erkennbar an ihrer dunkleren Hautfarbe, hätten sie es besonders abgesehen, meint Pius Dingueke. „In den Kofferräumen liegen Waffen. Sie stellen sich einem in den Weg und zeigen manchmal nur auf ihr Auto. Dann muss man sich zwischen seinem Handy, Geld oder seinem Leben entscheiden.“

Vor zwei Wochen habe er bei so einem Überfall sogar die Identität verloren, sagt er: den Reisepass. Höchstens 15 sei der Junge gewesen, der ihn vom Beifahrersitz eines im Schritttempo vorbeifahrenden Toyotas mit einer Pistole heranwinkte. „Asma“ (Komm mal her) ist oft das einzige Wort, das zwischen den arabischen Jugendlichen und den afrikanischen Migranten fällt. Mit 20 libyschen Dinar, umgerechnet 10 Euro, gaben sich die „Asma Boys“ nicht zufrieden. „Sie nahmen den Pass und zerrissen ihn vor meinen Augen, nur um ihre Macht zu demonstrieren“, sagt Pius.

Immerhin: Die Simkarte seines Handys hat er noch. Dort sind die Telefonnummern seiner Freunde und der Mittelsmänner der Boote gespeichert. Ohne die Nummer des Mittelsmannes sei man in Tripolis verloren.

Kosy Iken hat mittlerweile einen guten Job in einem Krankenhaus am Flughafen Mitiga. Von den 850 Dinar, rund 430 Euro, die sie im Monat verdient, schickt sie 100 Dinar an ihre Eltern im nigerianischen Bundesstaat Anambra. 300 Dinar legt sie auf die Seite. Der Anblick der Zerstörungen draußen mache ihr Angst, sagt sie, vielleicht komme ja der Krieg nun auch bald nach Mitiga.

Im Mai will sie los. Von dem Boga-Mann, dem sie noch 33.000 Euro schuldet, hat sie gehört, er sei vor Kurzem abgeschoben worden. „Der Weg nach Europa ist nun frei“, sagt sie. „Nachdem ich die Tortur der Sahara, den Milizenkrieg und die Mafia überlebt habe, brauche ich vor der Fahrt keine Angst mehr zu haben.“

Mirco Keilberth, 48, ist Libyen-Korrespondent der taz