Das Leugnen muss aufhören

VERANTWORTUNG Die Türkei sollte den Völkermord an den Armeniern endlich anerkennen. Das wäre ein wichtiger Ausgangspunkt für die historische Versöhnung beider Völker

VON ASTGHIK HAKOBYAN
UND LILIT ASATRYAN (JEREWAN)

Augenzeugenberichte, Archivmaterial, Fotos, Diplomatenberichte – das alles ist nur ein Teil der umfassenden Beweise dafür, dass die Grausamkeiten des Jahres 1915 als Völkermord bezeichnet werden müssen. Die übergroße Mehrheit der Historiker, der Holocaust- und Völkermordforschungen erkennen den Völkermord an den Armeniern an. Die Türkei nicht.

Bis heute leugnet das offizielle Ankara die Fakten, spricht lediglich von Grausamkeiten im Zuge des Ersten Weltkrieges. Ganz in Fortsetzung dieser Politik will der türkische Präsident Recep Tayipp Erdogan mit Historikern über die Angelegenheit diskutieren: Er bezweifelt, was längst bewiesen ist.

Die Türkei hat angekündigt, am 24. April zum internationalen Gedenken an die Schlacht von Gallipoli einzuladen – genau am Jahrestag der Erinnerung an den armenischen Völkermord. Das ist nicht nur zynisch und hat nur einen Zweck: Staatschefs anderer Länder sollen davon abgehalten werden, zum 100. Jahrestag des Völkermordes nach Armenien zu kommen.

Warum der Genozid geleugnet wird, ist klar. Die Türkei befürchtet einen immensen Imageschaden. Der Präsident hat erklärt, ein islamisches Land könne gar keinen Völkermord begehen. Und: Die größten türkischen Unternehmen sind mit geraubtem armenischen Geld entstanden. Es ging damals darum, die ganze armenische Nation auf ihrem historischen Gebiet Westarmeniens auszulöschen und damit die armenische Frage ein für allemal zu lösen. Eine Anerkennung des Völkermords durch den türkischen Staat hieße nicht nur, Verantwortung für die Verbrechen der Vorfahren zu übernehmen, sondern auch, einzugestehen, dass das heutige Ostanatolien Westarmenien ist. Und zuletzt fürchten die türkischen Behörden Entschädigungsforderungen der Armenier.

Nach Auffassung des Holocaustforschers und Psychotherapeuten Dr. Israel W. Cherry hat sich in der Türkei eine „Verleugnungsindustrie“ herausgebildet, die mit akademischer Unaufrichtigkeit, Falschinformationen, politischem Druck und von der türkischen Regierung finanzierten Drohungen arbeitet. In den Augen vieler Wissenschaftler ist das ein gefährlicher Weg, der sogar einer Unterstützung des Völkermords gleichkommt.

Obwohl die Anerkennung für die Türkei nicht einfach ist, kommt das Land dennoch nicht darum herum, wenn sie die außenpolitischen Probleme lösen will. Man kennt die Ansichten des türkischen Premiers Ahmed Davutoglu über die Beziehungen zu den Nachbarländern: „null Probleme mit den Nachbarn“. Der türkische Volksmund hingegen sieht eher „null Nachbarn und viele Probleme“.

Mit der Anerkennung des Völkermords würde die Türkei nicht nur die Probleme mit Armenien aus dem Weg schaffen, sondern wäre auch den internationalen Druck wegen des Umgangs mit der armenischen Vergangenheit los. Die Türkei sollte sich ein Beispiel an Deutschland nehmen: Die vorbehaltlose Anerkennung des Holocaust hat das Land nicht geschwächt.

Auch zum 100. Jahrestag kämpfen die Armenier noch immer um historische Gerechtigkeit. Die panarmenische Erklärung ist dabei ein wichtiger Meilenstein: Sie ruft die Türkei auf, den vom Osmanischen Reich angezettelten armenischen Völkermord anzuerkennen. Die Türkei soll sich ihrer Geschichte stellen. Auch heißt es in der Erklärung, die Anerkennung und Verurteilung des Völkermords wären ein wichtiger Ausgangspunkt für die historischer Versöhnung beider Völker. Die Türkei könnte in Armenien einen neuen Freund gewinnen.

Die öffentliche Meinung in der Türkei hat sich in letzter Zeit gewandelt – seit viele Länder den Völkermord als solchen anerkennen, tun das auch viele Türken. Aber heute werden in der Türkei Journalisten und andere Aktivisten, die sich der Regierung widersetzen, festgenommen. Die Menschen müssten Angst vor politischer Verfolgung haben – haben sie aber nicht. Seit der Ermordung des bekannten armenischen Journalisten und Intellektuellen Hrant Dink widersprechen die jungen Leute in der Türkei der Verleugnungspolitik, und sie haben auch keine Angst davor, das klar zu sagen. Tausende haben mit Spruchbändern wie „Ich bin Armenier – ich bin Hrant Dink“ demonstriert.

Die NGO-Projektmanagerin Zeynep Aslan nimmt fast jedes Jahr an den Gedenkdemonstrationen für Hrant Dink teil. „Als er umgebracht wurde, wusste ich nichts von Minderheiten und Armeniern in der Türkei. Aber ich spürte die Ungerechtigkeit, las dann eine Menge und verstand. Natürlich erfährt man im Geschichtsunterricht nichts über den Völkermord. Auch in den Mainstream-Medien ist das Wort nicht zu finden. Aber ich habe selbst recherchiert.“

Sie glaubt nicht, dass die Türkei den Völkermord offiziell anerkennen wird. „In naher Zukunft ist das nicht möglich. Es hängt von Machtfragen ab, und ob sich die Politiker davon Vorteile versprechen.“

Für Zeynep selbst ist es kein Problem, von Völkermord zu sprechen. „Die einfachen Leute können das Wort benutzen und die Sache privat diskutieren. Für Lehrer und Leute, die in der Öffentlichkeit stehen, ist das hingegen problematisch“, sagt sie.

Wir hoffen, dass die Leugnung bald ein Ende findet. Wir brauchen das nicht nur für uns. 100 Jahre sind seither vergangen, und die Welt ist kein Stück besser geworden. Unter bestimmten Umständen kann sich ein Völkermord wiederholen. Armeniens Außenminister Edward Nalbandyan hat kürzlich gesagt, dass unsere Nation der Völkermordüberlebenden eine besondere moralische Verantwortung dafür trägt, die internationale Gemeinschaft zusammenzubringen, um weitere Verbrechen gegen die Menschheit zu verhindern. „Anerkennung, Verurteilung und Bestrafung sind die beste Garantie, um solche Verbrechen zu verhindern“, sagte er.