Überwuchert die Städte!

Unkraut sprießt in Hannovers Kunstverein: Denn dort zeigen Lois und Franziska Weinberger, wie ungehemmte Ruderalpflanzen, Moose, Flechten und Algen das urbane Leben beleben könnten

aus Hannover Jörg Meier

Nein, nein, bloß nicht wie in Bremen: In die Steinwüste des dortigen Bahnhofsvorplatzes fügt sich das Rollrasengeviert wie versteinert ein, gezähmte Natur. Man stelle sich vor: Stattdessen würden aus der sterilisierten Urbanität acht Quadratmeter Bodenversiegelung herausgefräst, sich selbst überlassen und von herüberwehenden Samen besiedelt. Ein Sicherheitszaun schützt die Anarchie des Geschehenlassens.

„Unberührte Natur innerhalb der Einfriedung zeigt einerseits die Basis der uns umgebenden Kulturentwicklung – andererseits stellt die Arbeit ein Paradigma des Verzichts, des Nichteingreifens durch den Menschen dar“, würde der Künstler dazu notieren. Wir aber wollen uns weiter was vorstellen: Was wäre auf dem Hamburger Rathausplatz möglich?

Der gegen Wildwuchs abgesicherte Ort könnte durchtrennt sein von einer diagonalen Furche, die mit Gräsern bepflanzt wäre. Achtlos könnte man nun den Platz nicht mehr überqueren, müsste den Geh-Rhythmus dem Hindernis anpassen: Darf man das betreten?

Solche Ideen, Entwürfe und Gedanken zur Kunst von Lois und Franziska Weinberger könnten überall ihren Platz finden. Zu sehen sind sie derzeit im Kunstverein Hannover: Dort sollen die „denkbaren Folgen des Nichtsterilen in die gewagte Zukunft“ erblühen. Mit poetisierenden Texten begleitet das österreichische Paar seinen lausbübischen Minimalismus, der nur unter Einsatz kühler Vernunft funktioniert. Auch ihre Kunst besteht, wie längst üblich, vornehmlich aus dem Diskurs über Kunst. Doch die Weinbergers beackern eine angenehm bescheidene Position dieser Entwicklung.

Ihr Überbau ist immer von heiterer Leichtigkeit. Beispielhaft und in Hannover dokumentiert: die Arbeit für die documenta X. Damals stand der Kunstbummler am Kasseler Hauptbahnhof, suchte vergeblich Weinbergers Werk, entdeckte nur Unkraut zwischen rostigen Schienen. Genau das war die Kunst. Wissen muss man dazu nur: Bei den Pflänzchen handelte es sich um schnell wachsende Neophyten, also Neuankömmlinge, Einwanderer – und zwar aus solchen Ländern, aus denen Menschen nach Deutschland immigrieren. Schon versteht man die Aktion als hintersinnige Metapher.

Die Weinbergers arbeiten an den Randzonen der Wahrnehmung. Auf einem großformatigen Foto sehen wir Lois Weinberger auf dem ehemaligen Todesstreifen am Brandenburger Tor: Er gießt so genannte Ruderalpflanzen – Gewächse, die sich durch hohe Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit sowie starke Vermehrung auszeichnen. Faszinierend deren Strukturen, die auch auf Riesenleinwänden wirken: Weinbergers pop-ironischer „Plant Head“ von 2003 ähnelt Spiderman. Komponiert ist er aus Zellformationen von Moosen, Flechten und Algen.

Die unscheinbaren Pflänzchen kommen Weinbergers Neigung zum Beiläufigen entgegen: Auf immer neuen Brachen initiiert der Österreicher mit immer neuen Ruderal-Samen seine „Kultursteppen“ gegen die Arten-Reinheit: ungeregelter Massenbewuchs. Praktiziert auch fürs Archiv: „Gebiet 1988 - 1999“, dokumentiert in 624 Dias elf Jahre Feldforschung am heimischen Garten. Ein sich selbst überlassenes System ist auch exklusiv in den heiligen Ausstellungshallen zu erleben: „Darwin’s home“.

Einen ganzen Raum haben Weinbergers naturkitschgrün ausgepinselt. Bereit steht ein Stuhl, von dem aus man dem Leben beim Werden zuschauen soll. An einer Wand sind zwei ritterlich kämpfende Lebermoose zu entdecken, auf dem Boden liegen Teppichklopfer, um das „survival of the fittest“-Turnier auszutragen. Und der Gewinner ist: das Böse, unkultiviert, unanständig. Unkraut! Man stelle sich vor.

Kunstverein Hannover, dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr, mittwochs bis 21 Uhr. Nur bis 30.11.