Atommüll für den italienischen Stiefel

Zwar ist Italien vor langer Zeit aus der Kernenergie ausgestiegen, der radioaktive Müll aber ist geblieben. Die Regierung Berlusconi entschied nun überraschend, ein Endlager im Süden zu bauen. Seitdem herrscht dort der Ausnahmezustand

aus Rom MICHAEL BRAUN

Demonstrationen mit tausenden Teilnehmern, Blockaden von Straßen und Eisenbahnstrecken, Sperrung der Zufahrt zum Fiat-Werk in Melfi: Seit einer Woche ist in der Basilikata der Teufel los. Den Aufruhr verursachte die Entscheidung der Regierung Berlusconi, die kleine süditalienische Region mit einem atomaren Endlager zu beglücken.

Schon im Ansatz gescheitert ist damit der Versuch, die Öffentlichkeit gleichsam zu überrumpeln. Am Mittwoch letzter Woche hatten in Nassirija die Selbstmordattentäter zugeschlagen, und am Donnerstag – alle Medien beschäftigten sich exklusiv mit den italienischen Toten im Irak – erließ das Kabinett seine Verordnung. Danach soll Italiens gesamter Nuklearmüll bei dem Städtchen Scanzano Jonico deponiert werden.

Ein Beschluss, der die Menschen dort wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf: Monatelang hatte es geheißen, der Standort werde auf Sardinien gesucht, und die Sarden hatten vom Sommer an heftig mobil gemacht. Aber nicht umsonst ist der Präsident der Sogin, der Betreibergesellschaft für Nuklearanlagen, der Exgeneral Carlo Jean: Der Mann kennt sich offenbar bestens mit Finten und Überraschungsangriffen aus. Jean jedenfalls ließ jetzt wissen, Scanzano sei mit seinen Salzstöcken einfach perfekt für die Deponie; in 800 Meter Tiefe seien die insgesamt 80.000 Kubikmeter verstrahlten Mülls – unter ihnen etwa 4.000 Kubikmeter hochradioaktive Abfälle – absolut sicher aufgehoben.

In spätestens sechs Jahren soll es so weit sein. Die Regierung beschloss zugleich, schon jetzt ein provisorisches Zwischenlager in Scanzano zu schaffen. In ihm sollen die Abfälle aus den bisher etwa 150 Standorten zusammengetragen werden. Abfälle, die eine Erblast der atomaren Vergangenheit darstellen: Mit dem Volksentscheid von 1987 nämlich stieg Italien aus der Gewinnung von Nuklearenergie aus. Vier Meiler waren damals aber schon am Netz; was dort an Abfällen anfiel, schwimmt bisher noch in Abklingbecken oder steht in provisorischen Depots.

Doch die Einwohner von Scanzano Jonico haben keine Lust, nun den Dreck zu übernehmen. Scanzano liegt direkt an der Küste zwischen Absatz und Spitze des italienischen Stiefels; die Region Basilikata hat dort in den letzten Jahren intensiv den Tourismus gefördert. Zusätzlich zu den schon vorhandenen 20.000 Besucherbetten wird derzeit ein großes Feriendorf errichtet, das bei Inbetriebnahme der Atomdeponie sofort wieder geschlossen werden könnte. Schwere Schäden befürchtet die Basilikata auch für die Landwirtschaft – ihr zweites wirtschaftliches Standbein.

Deshalb machten vom ersten Tag an auch die Politiker der Region parteiübergreifend mobil. Der rechte Bürgermeister von Scanzano verfügte die Beschlagnahmung der Salzminen. Das Parlament der von den Mitte-links-Parteien regierten Region beschloss auf einer in Scanzano abgehaltenen Sondersitzung einstimmig den Gang vors Verfassungsgericht, da die Region an der Entscheidung der nationalen Regierung zu keinem Zeitpunkt beteiligt worden war. Derweil legten die Bürgerproteste die gesamte Region lahm.

Vor zwei Tagen reagierte die Regierung Berlusconi erstmals. Sie beschloss, auf die Errichtung des Zwischenlagers zu verzichten. Der Kern der Verordnung, der Bau des Endlagers, steht aber weiterhin. Deshalb zeigte sich die Protestfront von dem scheinbaren Einlenken unbeeindruckt. Die Straßen- und Gleisblockaden werden fortgesetzt, die Kinder von Scanzano pflanzen Bäume auf dem für das Endlager vorgesehenen Gelände, und für morgen ist eine Großdemonstration geplant.