Schleier vor dem Blick nach West

Premier Erdogan kommt auf seinem Kurs Richtung EU unter Druck. In der Türkei geht die Angst um, nun zum Schauplatz des Antiterrorkriegs zu werden

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

„El Katil“ titelte die größte türkische Zeitung Hürriyet gestern in großen Lettern auf Seite eins. „Katil“ heißt Mörder, und jeder versteht auf einen Blick, was gemeint ist. „Wir werden uns von diesen Mördern nicht von unserem Kurs abbringen lassen“, hatte auch Ministerpräsident Tayyip Erdogan in einer ersten Stellungnahme vor dem Parlament gesagt und hinzufügt: „Durch Terror wird die Türkei sich nicht spalten lassen.“

Während rund um das britische Konsulat und die HSBC-Bank die Aufräumarbeiten weitergehen, werden erste Festnahmen gemeldet. Von sieben Verhaftungen berichtet Hürriyet. Außenminister Abdullah Gül bestätigte dies bei einem gemeinsamen Auftritt mit seinem britischen Kollegen Jack Straw. Straw war noch in der Nacht auf Freitag nach Istanbul geflogen. Die britische Regierung ist erschüttert über den Tod des Generalkonsuls Roger Short. Straw äußerte erneut die Vermutung, dass die Attentate mit al-Qaida zusammenhängen, und kündigte an, die Türkei bei der Aufklärung in jeder Weise unterstützen zu wollen. Britische Polizei und Geheimdienst trafen gleichzeitig mit ihm ein.

Angeblich hat die Polizei bereits die Identität der beiden Selbstmordattentäter ermittelt. Die Zeitungen spekulieren, dass sie aus demselben Umfeld wie die Selbstmordattentäter vom Samstag kommen und ebenfalls aus der kurdischen Kleinstadt Bingöl stammen. Wohl vor diesem Hintergrund hat Erdogan den Chef des Geheimdienstes MIT, Senkal Atasagun, wenige Stunden nach den Anschlägen zu sich zitiert und offenbar scharf kritisiert. Die Anschläge könnten durch Unzulänglichkeiten des Geheimdienstes erleichtert worden sein, sagte er später vor dem Parlament.

Mittlerweile herrscht in der gesamten Türkei Sicherheitsstufe eins. In Istanbul werden öffentliche Gebäude, alle Konsulate, Kirchen, Synagogen und andere Einrichtungen westlicher Staaten verstärkt bewacht. Neben der Polizei soll die Armee zum Objektschutz herangezogen werden. Die Militärs dürften gestern Nachmittag auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats zudem darauf gedrängt haben, schärfer gegen das gesamte islamistische Umfeld vorzugehen.

Ministerpräsident Erdogan und sein Kabinett stehen nun enorm unter Druck. Während Kommentatoren islamischer Medien wie der Kolumnist von Vakit, Abdurrahman Dilipak, Zweifel daran anmelden, es handele sich um religiös motivierte Attentäter, fordern andere ein entschlossenes Handeln. Stellvertretend für viele forderte der Herausgeber der linken, kemalistischen Zeitung Cumhuriyet, Ilhan Selcuk, die Regierung auf, Farbe zu bekennen: „Jetzt ist keine Zeit mehr für Kopftuchstreit. Das Land muss im Kampf gegen den Terrorismus zusammenstehen.“

Jenseits der traditionellen Konfliktlinien haben die meisten Türken große Angst, zum eigentlichen Schauplatz der Auseinandersetzung im von US-Präsident Bush geführten Kampf gegen den Terror zu werden. Während linke Intellektuelle wie Ali Bayramoglu sich fragen, ob nun die gesamte Region mit Terror überzogen wird, ist der dem islamischen Lager zugehörige Kolumnist Fehmi Koruh überzeugt, dass die Türkei das Opfer der falschen amerikanischen Politik im Anschluss an den 11. September geworden ist. Tatsächlich liegt die Türkei genau im Schnittpunkt der Auseinandersetzung. Geografisch wie ideologisch ist das Land der östlichste Frontstaat einer westlich orientierten, laizistischen Demokratie, dazu mit einer muslimischen Bevölkerung und einer fundamentalistischen Minorität, die politisch isoliert ist und offenbar in den letzten Jahren auch Kontakte zu international agierenden Terrororganisationen geknüpft hat.

Unterschiedlicher Lebensvorstellungen sind nirgendwo in der Türkei so eng verwoben wie in der Metropole Istanbul. Bisher sind moderne westliche Lebensentwürfe hier unmittelbar benachbart mit tief religiösen. Am allerengsten ist diese Mischung im Herzen Istanbuls, in Beyoglu. Das Amüsierviertel ist nur durch eine vierspurige Autostraße von einem religiös dominierten armen Viertel getrennt, in dem hauptsächlich Einwanderer aus dem Osten der Türkei leben. Das Nebeneinanderleben war bislang durch große Toleranz geprägt. Viele Istanbuler fürchten nun, dass diese friedliche Koexistenz nun zerstört wird. Schon jetzt fragen sich viele Leute, ob sie künftig Orte meiden sollten, die Anschlagsziele abgeben könnten: die Shopping-Mall, das McDonald’s und das British Council.

Für den Fall, dass es den Terroristen wie angekündigt gelingen sollte, noch einen weiteren Anschlag durchzuführen, sieht Ali Bayramoglu die Türkei vor einer neuen Phase von Repression und der Beschneidung von Freiheitsrechten. „Die Regierung wäre dann wohl gezwungen, den Ausnahmezustand auszurufen.“ Tayyip Erdogan, der weiter Kurs Richtung Europa halten will, wurde gestern von Jack Straw unterstützt. „Die Türkei ist eine erfolgreiche Demokratie, die fester Teil der Europäischen Union werden muss“, sagte er vor den Trümmern des britischen Konsulats.