: Mönch der Entzifferung
SCHREIBTHERAPIE Für den Roman „Vom Aufenthalt“ plündert der Schriftsteller Botho Strauß den Zettelkasten und begegnet sich selbst auf der Couch
VON JÜRGEN BERGER
Es ist verwunderlich, wie häufig in den bisherigen Besprechungen der vermeintliche Gemütszustand des Weltengrüblers aus der Uckermark eine Rolle spielt. In der Zeit etwa ist von einer „schmerzlichen Vereinsamung“ die Rede und von „Wiederholungen jener Befunde, die man aus früheren Büchern kennt“, während die FAS in Abwandlung eines frühen Strauß-Bonmots diagnostiziert, er denke auf Anhieb dümmer ohne einen Lektor, „der aus der Muskulatur seiner Prosa das Tranige herrausschabt, das nekrotische Meinen, das Stammtisch-Hämatom“.
Besteht denn tatsächlich Anlass zur Sorge, fragt man sich, versucht dann aber doch im „Vom Aufenthalt“ weiterzukommen und fahndet, ob Botho Strauß mit seiner Exkursion ins weite Land der Gedankensplitter mehr zu bieten hat als Ware aus der Frischhaltetheke eines Elitedenkers, der interessanterweise immer dann alles andere als geerdet wirkt, wenn er auf dieses seltsame Phänomen „Masse“ trifft. „Der amerikanische Historiker Hayden White unterscheidet zwischen dem Herrenleser und dem Knechtleser. Letzterer ist heute leicht ausgemacht, die Bestseller- oder Belletristik-Konsumenten etc. Der Herrenleser aber? Doch nicht der Mönch der Entzifferung, wie ich ihn immer wünschte und mir einbildete?“, schreibt er an einer Stelle. Und etwas später: „Schließlich gehört man nicht zu den gewöhnlichen Fernefressern, man trug von jeher das Unerreichbare im Gesicht, wohin soll man seine Schritte lenken.“
Verstreute Fundstücke
Mit solchen Petitessen bestreitet Botho Strauß ganze Passagen, als habe er lediglich seinen Zettelkasten geplündert und verstreute Fundstücke versammelt, die in früheren Werken keine Verwendung fanden. Plötzlich allerdings stellt sich dann doch wie in „Wege des Mannes, Stunden der Frau“ der Beginn einer Erzählung ein.
Strauß deutet die Geschichte eines gewissen Elz an, der in sein „früheres ungeteiltes Denken und Fühlen“ und in die „Obhut der Vaters“ zurückkehrt. Das Ganze spielt in einem altertümlich anmutenden Gasthof, eine ganz eigene, melancholische Atmosphäre greift um sich und Botho Strauß ist so nah bei sich, wie ansonsten nur, wenn er auf den sterbenden Vater zu sprechen kommt, dem er den Arm um die Schulter legt und den er daran zu erinnern versucht, wie er den Schüler damals 1955 über die zugefrorene Lahn zur Schule begleitete.
„Aber er konnte sich nicht erinnern. Es berührte mich merkwürdig, denn ich war in der festen Überzeugung, dem Menschen schlössen sich bei Eintritt des Todes sämtliche Lücken in seinem Gedächtnis.“ Beschäftigt er sich empathisch mit einem Menschen, ist der Erzähler Strauß schlagartig um Klassen besser. Ansonsten allerdings leistet er sich vornehmlich einen distanzierten, leicht angeekelten Ton und wütet gegen die aus seiner Sicht fehlgeleitete Moderne. Dann kann es passieren, dass ihm eine „Schwarzkraushaarige“ in die Quere kommt. Sie liegt an der Badestelle „nackt auf dem Bauch“, zeigt den „möndlichen Hintern“ und hält den Erzähler „keiner „Schamreaktion für würdig“. So was kann vorkommen. Anstatt es allerdings dabei zu belassen, beim schönen Spiel des Begehrens gerade mal nicht oder eben gar nicht mehr mit dabei zu sein, widmet Botho Strauß sich im folgenden der Freikörperkultur der DDR und diesem „groben Sinnengeschmack, der leider den staatlichen Ruin unbeschadet überstand“.
Erotischer Zynismus
Im real existierenden Sozialismus, befindet er, hätten Filme und Erzählungen von Rohmer, Kawabata und Antonioni eben gefehlt, und da sei es nicht verwunderlich, dass dem in der DDR sozialisierten Menschen jene „Stimmung der erotischen Verfänglichkeit“ fehle, die im Westen so selbstverständlich sei. Stattdessen habe der Ostmensch sich in Gefilden eines erotischen Zynismus „der letztlich arschbackenkneifenden Sinnenfreude der Brecht und Konsorten“ getummelt.
Welch blanken Unsinn er da schreibt, hätte Strauß spätestens dann auffallen müssen, wenn er sich gefragt hätte, warum der angeblich so wunderbar „nachbürgerlich“ in die erotische Verfänglichkeit hinein sozialisierte Westmensch auch schamlos nackig an Badestellen herumliegt und dort sogar Swingerparties feiert.
Was bleibt, ist Ratlosigkeit und dieses seltsame Gefühl, nicht als Rezensent, sondern eher als Therapeut gefragt zu sein. Nur würde dieser Dienst wohl schroff abgewiesen werden. „Dennoch bietet so ein kleines Buch, richtig abgefasst, heute vielleicht die letzte Chance, mit dem ein oder anderen Menschen in Verbindung zu treten, ohne mit ihm kommunizieren zu müssen“ heißt es, wenn Botho Strauß sich selbst auf der Couch begegnet und Signale aussendet, die man schonungslos nennen könnte, wäre da nicht dieser wehleidige Ton, der beim Lesen keinesfalls zum Aufenthalt einlädt.
■ Botho Strauß: „Vom Aufenthalt“. Hanser Verlag, München 2009, 296 Seiten, 19,90 Euro
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