Kein Krieg. Kein Frieden

FAMILIE Als Kind flüchtet Umes Arunagirinathan vor dem brutalen Krieg in Sri Lanka nach Hamburg. Jetzt ist der Krieg vorbei, er hofft, seine Eltern wiederzusehen

Er hofft für Sri Lanka, „das ist vielleicht der erste Schritt in Richtung Frieden“

AUS HAMBURG LALON SANDER

Der Krieg, der sein Leben so sehr bestimmt hat, ist aus. Die Botschaft aus Sri Lanka erreichte Umes Arunagirinathan in Hamburg-Eppendorf – weit weg vom Dorf seiner Kindheit auf der Halbinsel Jaffna. Dass dort im Mai 2009 die Regierungsarmee die tamilischen Rebellen niederschlug und den Krieg für beendet erklärte, gibt ihm Hoffnung.

„Ich kann jetzt zumindest darüber nachdenken, Jaffna zu besuchen“, sagt der 31-jährige Assistenzarzt. „Unser Tempel, meine Schule – diese Bilder kommen oft in mir hoch.“ Den Vater, den er vor neunzehn Jahren in Sri Lanka zurücklassen musste, hat er seither nicht gesehen. Seine Mutter hat er zweimal in London getroffen. Er will seine Familie besuchen, er kann es ja wieder.

Doch die Reisepläne bleiben vorerst Gedankenspiele. Noch ist es zu gefährlich, nach Sri Lanka zu reisen. Der Krieg sei zwar zu Ende, sagt er, aber von Frieden könne noch keine Rede sein.

Umes Arunagirinathan kennt Sri Lanka nur im Krieg. Im Norden der Insel besaßen seine Eltern ein Haus und etwas Land, auf dem sie Mangos, Bananen und Zwiebeln anbauten. Die Ernte verkauften sie in der Hauptstadt Colombo, das Geld reichte für Umes, seine vier Geschwister, die Eltern und Großeltern.

Von der Hütte in die Platte

Als der Bürgerkrieg 1983 beginnt, wird die Bevölkerung zwischen den tamilischen Rebellen und der Regierungsarmee aufgerieben. Als Hubschrauber der Regierung Umes’ Dorf bombardierten, versteckte sich die Familie unter Bananenbäumen, das Nachbarhaus wurde zerstört. Mehrmals flüchtete die Familie vor anrückenden Soldaten, zurück blieben die Großeltern, sie wollten ihr Haus nicht verlassen. Dann erkrankte Umes’ große Schwester an einer Niereninfektion. Für die Behandlung verkaufte die Mutter ihre Hochzeitskette, doch es fehlten die Fachärzte, um das Mädchen zu retten.

Ihr Tod veränderte alles. Umes’ Mutter beschloss, ihre anderen Kinder außer Landes zu schaffen. Als Erster wurde Umes Schleppern anvertraut, sie sollten ihn zu einem Onkel nach Hamburg bringen. „Zum Abschied sagte mir meine Mutter, ich solle Arzt werden“, erinnert sich Umes Arunagirinathan.

Es folgte eine Odyssee, die den Zwölfjährigen über Singapur und Westafrika nach Deutschland brachte. Nach acht Monaten, im September 1991, holte ihn sein Onkel in Frankfurt ab und zu sich nach Hamburg. Dort lebte er mit seiner Frau und den zwei Kindern auf sechzig Quadratmetern im Plattenbauviertel Hamburg-Mümmelmannsberg. Zu fünft wurde es noch enger und finanziell schwieriger. „Aber ich fühlte mich dazu verpflichtet“, sagt der Onkel. Er war selbst aus Sri Lanka geflüchtet.

Heute wie damals ist Mümmelmannsberg ein sozial schwacher Stadtteil. Hier lebt jeder dritte Bewohner von Hartz IV, viele sind Einwanderer. An diesem Winternachmittag ragen die grauen Plattenbauten in den bewölkten Himmel. Einer der seltenen Farbtupfer ist die grellorangefarbene Gesamtschule mit den blauen Fenstern.

Im ersten Stock unterrichtet Anke Burmeister ein Dutzend fröhlich schnatternder Zwölfjährige. Es ist eine Klasse für Kinder, die kein Deutsch können. „Umes hat damals in genau dieser Klasse gesessen“, erinnert sich Burmeister. Er sei ein intelligentes Kind gewesen, hatte zwar Probleme mit Um- und Zischlauten, lernte aber schnell und konnte schon nach sechs Monaten den Sportunterricht in einer Regelklasse besuchen.

Während seiner ganzen Schulzeit hat Umes darum gekämpft, Deutschland zu verstehen. Und um sein Bleiberecht. Für ein Kind mit seinen Erfahrungen eine schwierige Sache: Ein vorbeifliegender Rettungshubschrauber etwa löste bei ihm Kriegserinnerungen aus; sein Onkel wollte, dass er sich unter den Hamburger Tamilen Freunde sucht, dabei war ihm die Herkunft seiner Freunde egal. Als die Schule für ein Kunstprojekt ausgezeichnet wird, braucht der Flüchtling Umes eine richterliche Genehmigung, um nach Berlin fahren zu können. Für den Preis, eine Frankreichreise, kann er nur Mitschüler auswählen – selbst ausreisen darf er nicht.

Als er in der Oberstufe ist, wird sein Asylantrag abgelehnt. Da hadert Umes mit dem Leben. Den Sprung aus dem elften Stock bringt er nicht über sich.

Warten auf den Frieden

An seiner Schule ist Umes’ Geschichte nicht ungewöhnlich. Es gibt hier Kinder, die in ihrer Heimat mit ansehen mussten, wie ihre Geschwister getötet wurden. Kinder, die sich ohne Familie in Deutschland durchschlagen. „Umes hatte es da vergleichsweise gut“, sagt Burmeister. „Immerhin hatte er ja seine Verwandten, die sich um ihn gekümmert haben.“ Umes wird Schulsprecher und zum Landesschulparlament entsandt. Dort wählen sie den Jungen aus Mümmelmannsberg zu ihrem Sprecher.

Als Landesschulsprecher trifft er auch viele Politiker, ihnen erzählt er seine Geschichte. Den damaligen Oberbürgermeister Henning Voscherau bittet er um Hilfe. „Ein eindrucksvoller junger Mann“, erinnert sich Voscherau. Schließlich beschließt der Hamburger Innenausschuss eine Duldung. Umes darf vorerst in Deutschland bleiben. Das Abitur schafft er mit 1,6, Umes studiert Medizin in Lübeck.

Heute ist Umes Arunagirinathan ein schlanker Mann mit kurzen Haaren und breitem Lächeln. „Moin, moin“, grüßt er die Angestellten der Cafeteria im Uniklinikum, wo er als Herzchirurg arbeitet. Zwischen Frühschicht und Spätschicht teilt er sich mit seinem Kollegen Adel Tariparast eine Pizza.

„Umes ist gut organisiert und kümmert sich sehr um die Patienten. Manchmal habe ich das Gefühl, er wohnt hier“, erzählt Tariparast. Am Wochenende gehen sie manchmal tanzen, über Sri Lanka aber haben sie nie gesprochen. „Ich habe viel Traurigkeit und Einsamkeit verspürt“, sagt Umes, „anderen gegenüber versuche ich positiv zu bleiben.“

Er hofft für Sri Lanka. „Ich bin glücklich, dass die Menschen nicht mehr in Angst vor Angriffen leben müssen“, sagt er, „das ist vielleicht der erste Schritt in Richtung Frieden.“ Doch so ganz will er es noch nicht glauben.

Der Krieg hat seine Familie über die ganze Welt zerstreut. Für seine Schwestern wurden Männer in London und Toronto gefunden, sein jüngerer Bruder wurde von Schleppern in die USA gebracht. Seine Großeltern sind in Sri Lanka verschwunden. Ein Onkel wurde in einem Lager ausfindig gemacht, wo hunderttausende Tamilen eingesperrt sind. Der Onkel berichtete, dass auch nach dem Kriegsende viele junge Männer verschwinden und verschwunden bleiben.

Auch deshalb zögert Umes, dorthin zu reisen. „In Sri Lanka macht es nichts aus, dass ich jetzt Deutscher bin“, sagt er. „Wenn ich ermordet werde, stirbt dort ein Tamile.“ Aber irgendwann will er zurück, ein Haus mieten und die Familie für ein paar Wochen zusammenbringen. Und er will die Ärzte unterstützen, im Krankenhaus von Jaffna, die im Krieg seine Schwester nicht retten konnten. Solche Gedanken hat er, seit der Krieg vorbei ist, der sein Leben so sehr bestimmt hat.

■ Lalon Sander, 24, ist taz-Volontär