So viele Namen, so viele Menschen

HOLOCAUST Vor dem jüdischen Gemeindezentrum werden die Namen aller Berliner Juden verlesen, die ermordet wurden

VON CLAUDIUS PRÖSSER

Die Frühlingssonne und die klare Luft haben in der Stadt den Regler „Farbsättigung“ aufgedreht. Auf dem Ku’damm ist alles doppelt so bunt wie sonst, die orangen Overalls der BSR-Straßenkehrer leuchten so grell, man kann kaum hinsehen. Überall Menschen, es riecht nach Starbucks-Kaffee und Parfüm.

Die Fasanenstraße um die Ecke ist weniger belebt. Von Weitem schon sieht man das kleine, weiße Veranstaltungszelt vor dem Jüdischen Gemeindezentrum, monoton gesprochene Silben dringen durch den Straßenlärm. Beim Näherkommen schälen sich Namen aus dem Rhythmus. Bloch, Olga. Bloch, Oskar. Bloch, Otto. Bloch, Paul.

Ein Dutzend Schüler des jüdischen Gymnasiums sitzt im Zelt, alle paar Minuten wechseln sich die Mädchen und Jungen am Mikrofon ab, das daneben auf einem kleinen Podest steht. Sie lesen Namen aus einem Buch vor, einem großen Buch, dessen Seiten beim Umblättern knistern. Blond, Adolf. Blond, Harry. Blond, Reinhard. Blond, Sigrid.

55.696 Namen sind es insgesamt, die Namen aller Berliner Juden, die im Holocaust ermordet wurden. Seit 9 Uhr werden sie vorgelesen, bis Mitternacht wird es wohl dauern. Anlass ist der Jom haScho’a, wichtigster jüdischer Gedenktag für die Opfer des Holocaust. Das Datum variiert aufgrund der Besonderheiten des jüdischen Kalenders, es liegt jedoch immer in zeitlicher Nähe zum Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 begann.

Die Tradition der öffentlichen Lesungen hat die Gemeinde 1996 begründet. Bis 2004 fanden sie auf dem Wittenbergplatz statt. Weil es dort aber zu antisemitischen Anfeindungen kam, verlegte man das Lesepult vor das Zentrum in der Fasanenstraße. Hier gibt es ohnehin rund um die Uhr Polizeischutz. Blum, Albert. Blum, Amelie. Blum, Bella. Blum, Bernhard. Blum, Betty.

Am Abend wird eine Gedenkveranstaltung stattfinden, der Gemeindevorsitzende Gideon Joffe soll sprechen, das politische Berlin vertritt die Grüne Anja Schillhaneck als Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses. Man wird Kränze niederlegen und das Kaddisch-Gebet hören. Jetzt, gegen Mittag, will kaum Feierlichkeit aufkommen, der Abgrund, der aus der Liste spricht, verblasst in der Sonne und vor dem Desinteresse der Passanten. Kaum jemand bleibt stehen, vor dem Asia-Imbiss isst man schon zu Mittag.

Die Schüler im Zelt essen Eis am Stiel. Gleich werden sie von einer anderen Klasse abgelöst. Sie machen das jedes Jahr, sagen ein paar von ihnen auf Nachfrage. Stehen Verwandte von ihnen im Buch der Toten? Achselzucken: Nein. Oder doch, ja, von einer Freundin. Die Jugendlichen machen sich auf den Rückweg zur Schule, sie albern ein bisschen herum, sie sind jung, es ist eine andere Generation. Die Jungs tragen Hoodies zur Kippa.

Blumenfeld, Margarete. Blumenfeld, Margarete, geborene Elias. Blumenfeld, Margarete, geborene Glück. Ein Mann liest, Ende fünfzig, Typus Studienrat. Er legt viel Wert auf deutliche Aussprache. Ist er der Lehrer? „Nein“, sagt er später, „ich mache einfach so mit, ich bin auch gar kein Jude.“ Er lacht verlegen. „Aber so was ist doch wichtig.“ Seinen eigenen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen.