Der Bedarf ist riesig

ISLAMISMUS Das Land Berlin finanziert einen freien Träger, der sich um radikalisierte junge Menschen kümmern soll. Experten fordern ein landesweites Programm auch für Schulen

Das Projekt Kompass bekommt nun fünf Jahre lang 100.000 Euro jährlich

VON PLUTONIA PLARRE

Nichts, rein gar nichts hat der Berliner Senat in den letzten Jahren auf diesem Gebiet zustande gebracht. Und das, obwohl laut Verfassungsschutz rund 620 Salafisten in der Hauptstadt leben, 330 sind als gewaltbereit eingestuft. 90 haben Berlin in Richtung Kriegs- und Krisengebiete verlassen. Ein Drittel ist inzwischen wieder zurückgekehrt. Die Tendenz ist insgesamt steigend. Staatlich verordnetes Präventionsangebot für anfällige junge Menschen? Deradikalisierungsprogramm? Fehlanzeige.

Aber nun ändert sich das. „Endlich“, sagt Claudia Dantschke, als sie am Mittwoch das Abgeordnetenhaus verlässt. „Endlich passiert was.“ Dantschkes Gesicht ist gerötet: Zwei Stunden hat die Expertin für Islamismus und Mitbegründerin der Beratungsstelle Hayat den Abgeordneten im Verfassungsschutzausschuss Rede und Antwort gestanden. Hayat berät Angehörige, deren Kinder sich radikalisieren oder bereits in den Dschihad gezogen sind. Die Beratungsstelle arbeitet deutschlandweit und wird vom Bundesinnenministerium finanziert.

Der Verfassungsschutzausschuss hat am Mittwoch zu einer Expertenanhörung geladen. Mit Dantschke im Ring sind die Kollegen von drei Projekten, die sich auf Prävention im Bereich Extremismus spezialisiert haben: Jochen Müller vom Verein ufuq.de – auf Deutsch: Perspektiven. Aycan Demirel von KIgA e.V. – politische Bildung für die Migrationsgesellschaft. Und Thomas Mücke vom Verein Violence Prevention Network (VPN).

Sein Netzwerk ist am 1. April 2015 von Innensenator Frank Henkel (CDU) beauftragt worden, „bei bereits radikalisierten Personen Deradikalisierungsprozesse einzuleiten und eine Demobilisierung gewaltbereiter Personen zu erreichen“. Das Projekt, das eng mit Verfassungsschutz und Polizei zusammenarbeiten soll, bekommt fünf Jahre lang 100.000 Euro jährlich. Gegründet worden ist damit die Beratungsstelle Kompass – die erste vom Land Berlin finanzierte Beratungsstelle in diesem Bereich. Mücke zufolge arbeitet Kompass in Verzahnung mit anderen Netzwerken – auch mit der Sehitlik-Moschee, die gerade eine eigene Beratungsstelle aufbaue.

Ob das denn reiche, was der Innensenator da lockergemacht habe, wollte der Abgeordnete Pavel Mayer (Piraten) von den Experten wissen. Ob das nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein sei? Es brauche mehr niedrigschwellige Angebote, sagte Dantschke. Türkische, arabische und ostdeutsche Familien hätten große Hemmungen, sich an den Verfassungsschutz zu wenden, wenn ihr Kind abdrifte. Das Problem für die in dem Bereich arbeitenden NGOs sei zudem: „Jedes neue Projekt muss bei null anfangen.“ Um deren Arbeit zu erleichtern, brauche es eine landesweite ressortübergreifende Fachkoordination, waren sich die Experten am Mittwoch einig.

Innensenator Henkel zeigte sich durchaus offen für die Forderung nach einem landesweiten Deradikalisierungs- und Präventionsprogramm. Zu klären sei nun, welche Verwaltung die Federführung übernehme.

Vieles, was bei der Anhörung vorgebracht wurde, sprach dafür, die Verantwortung für die Koordination besser bei der Senatsverwaltung für Schule, Bildung und Familie anzusiedeln als bei der für Sicherheitsfragen zuständigen Innenverwaltung. Allerdings hat sich Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) bislang noch mit keinem Wort zu dem Thema geäußert.

Gerade an Schulen müsse präventiv gearbeitet werden, sagte Jochen Müller von ufuq.de. „Der Bedarf ist riesig.“ Die Jugendlichen suchten mit ihrem Bekenntnis zum starken Islam eigentlich eine soziale Identität und weniger einen Glauben. Das Problem sei nur: Experten, die solche Schulungen durchführen könnten, seien in Deutschland an einer Hand abzuzählen.