Einer, der nicht aufhören kann

HAUSBESUCH Er braucht einen Keller, um dort Pralinen herzustellen. Bei Chocolatier Christian Jossien in Hermsdorf

VON MARLENE GOETZ
(TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Hermsdorf, ein Ortsteil von Berlin-Reinickendorf im Norden der Hauptstadt, zu Besuch bei dem französischen Schokoladenfabrikanten Christian Jossien.

Draußen: Am östlichen Rande der ehemaligen „Cité Foche“, eines Wohngebiets, das für die Angehörigen der französischen Streitkräfte gebaut wurde. In der Jean-Jaurès-Straße, hinter einem Eisentor, steht die gelb-orange Backsteinvilla („Hier hat früher der Kommandeur der französischen Gendarmerie gewohnt“). Nun hat Christian Jossiens Familie das Haus bezogen. Wenige Fenster, Blumen in großen Kästen, in der offenen Garage links vom Eingang sieht man Fahrräder, Kisten, Spielzeug.

Drin: Oben ist es ein Familienhaus mit einer großen und perfekt ausgestatteten Küche auf der linken Seite; daneben ein geräumiges Wohnzimmer, und gegenüber dem Eingang der mit Akten gefüllte Büroraum des Schwiegersohns. Unten im Keller, neben der kleinen Gästewohnung, ist Christians Bereich: Hier, zwischen Abstellkammern und Billardtisch, stellt er seine Schokoladenspezialitäten her. Die beiden kleinen Zimmer, in denen die Pralinen fabriziert werden, sind aufgeräumt und weiß gefliest. Knetmaschinen für große Mengen Teig stehen neben Backöfen und Regalen, so hoch wie Schränke; es gibt Metallschüsseln in jeder Größe, Plastik- und Glasbehälter, manche voll Schokolade. Es riecht nach – Süßigkeiten.

Christian: Er ist 1941 im Norden Frankreichs geboren, in einem Dorf namens Bruay-en-Artois. Sein Vater wurde 1944 von den deutschen Soldaten erschossen. „Meine Mutter war plötzlich allein in der Feinbäckerei, und wir mussten mithelfen“, erzählt er von der Kindheit mit den drei Geschwistern. In der Familie der Mutter gab es seit Generationen viele Konditoren, nur der Großvater war „Taubenrupfer – ein Beruf, den es heutzutage nicht mehr gibt“. In zweiter Ehe heiratete die Mutter 1951 einen luxemburgischen Konditor, mit dem sie einen Sohn bekam („Es war nicht leicht für uns, aber ich bin ihm nicht böse“). Der Stiefvater hatte 1932 in Berlin gearbeitet, bevor er fliehen musste und sich dem Widerstand in Frankreich anschloss. Nach dem Krieg arbeitete er in der Feinbäckerei der Mutter. Zur Hochzeit wurden die Kinder nicht eingeladen („Wir haben es nicht verstanden. Zu dieser Zeit wurde nicht viel gesprochen“). Alle Geschwister gingen zur Armee, nur Christian blieb, um die Familientradition zu erhalten („Mein Stiefvater hat mir alles beigebracht“). Mit 17 verlässt er den Norden und zieht in die französischen Alpen nach St. Gervais (Haute-Savoie). Dort blieb er 45 Jahre als Angestellter einer Bäckerei und Konditorei. „Alle zwei Wochen kam der General de Gaulle in unsere Stadt, denn die Nato-Soldaten waren in der Nähe stationiert.“

Was macht er? Vor Ostern hatte er vor allem mit der Herstellung von Schokoladeneiern viel zu tun. Auch seine neu entworfenen „Macaron Glaçons“ beschäftigen ihn: Sie bestehen zur Hälfte aus französischen Macarons – einem Baisergebäck – und zur anderen Hälfte aus Christians eigener Kreation, die er „Les Glaçons de Christian“ nennt, was auf Französisch so schön klingt, auf Deutsch dann aber doch bloß – frei übersetzt – „Christians Eiswürfel“ heißt: eine handgemachte weiße Praline aus Nüssen ist es, aus Kakao, weißer und dunkler Schokolade, Vanille und Mandeln. Was noch? Das Rezept bleibt geheim. Der Preis aber nicht: ein Luxusprodukt, „pro Kilo 99 Euro“.

Woran denkt er? An Schokolade und was man damit machen kann. Mit über siebzig hat Christian gemeinsam mit Schwiegersohn Omar und der Hilfe seines Assistenten David ihr neues Geschäft eröffnet („klein wie ein Taschentuch“). Sie verkaufen Glaçons, Palets Or – kleine, dunkle Schokoladen mit einem Stück Goldblatt darauf – „Macarons, Tartes“.

Rente? Jossien ist seit 2001 pensioniert. Schokoladen hat er aber immer weiter gemacht, es mache ihm „zu viel Spaß, um aufzuhören.“ Erst in St. Gervais, um sie Freunden zu schenken. Damals auch schon im Keller: „Ein guter Ort für Schokolade, wenn es dort trocken ist.“

Warum Berlin? Carole, Christians einzige Tochter, war 1987 nach Berlin gekommen, um Deutsch zu lernen. „Omar, der mit meinem Bruder beim Roten Kreuz arbeitete, sollte in diesem Sommer auf sie aufpassen“, erzählt Christian und zwinkert. Carole blieb bei Omar, sie heirateten und bekamen zwei Kinder. „Ich bin immer in den Ferien gekommen“, sagt Christian, „nach der Rente habe ich mich hier niedergelassen.“ Anfangs habe er auch in Berlin nur „für die Familie“ Schokoladen hergestellt.

Das erste Date: Anfang der sechziger Jahre in Südfrankreich: Christian lud Janine zum Rummel in einer Nachbarstadt ein. Auf dem Heimweg, zu Fuß („Bei der Hinfahrt hatten wir schon eine Strafe zahlen müssen, weil wir zu dritt auf einem Mofa saßen“), ein riesiges Gewitter, ein Blitz schlug zehn Meter von ihnen ein („Wie ein Feuerball“). „Dann hat es angefangen zu schiffen, und wir konnten uns gerade noch unter den Balkon einer Villa retten.“ Dort der erste Kuss. Und es war: Liebe.

Hochzeit? 1966, „alles ganz normal, wir waren ja nicht reich“, sagt Christian: Nur die Mutter und Schwester kamen zur kirchlichen Trauung. Ein Jahr später wurde ihre Tochter Carole geboren, Janine gab ihre Arbeit als Büglerin in der Fabrik auf und führte den Haushalt.

Alltag: „Ich bin nicht mehr so ein Frühaufsteher wie früher“, da habe er manchmal „drei Tage durchgearbeitet“. Heute arbeitet er etwa von 11 bis 19 Uhr. Abends verbringt er die Zeit mit der Familie. „Ich koche auch, aber nicht wenn Omar da ist: Wir haben einfach nicht den gleichen Stil.“ Die Wohnung in St. Gervais besitzt das Ehepaar noch. Obwohl Christian die meiste Zeit in Berlin lebt, bleibt seine Frau eher in Frankreich. „Wenn du eine Bewohnerin der Haute-Savoie bewegen willst, dann musst du auch den Berg umsiedeln“, sagt er.

Wie finden Sie Merkel? Die Kanzlerin hat Jossien schon mit eigenen Augen gesehen, Anlass, mit ihr zu sprechen, hatte er aber nicht. „Ich finde, es ist eine Frau, die viel Mut hat.“

Wann sind Sie glücklich? „Die ganze Zeit!“ Wie ist das möglich? „Ich habe es nie gelernt, unglücklich zu sein.“

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