„Die Geister beschwören“

Geschichte zwischen Boulevard, moralischer Anstalt und internationalen Gastspielen: 100 Jahre alt wird das Hebbel-Theater. Ein Gespräch mit Hausherr Matthias Lilienthal zur Frage, wie er weiter Brücken schlagen möchte an diesem Ort voller Brüche

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Herr Lilienthal, das Hebbel-Theater wird in diesem Jahr 100 Jahre alt. Wie kam es zu seiner Gründung?

Matthias Lilienthal: Aus einer Examensarbeit wissen wir von einem ungarischen Journalisten, der wollte gerne Dramaturg werden. Die bestehenden Theater haben ihn abgelehnt und er sagte sich, gut, dann baue ich mir mein eigenes Theater. Im Kaufhaus des Westens sah er eine Küchenzeile, die von Oskar Kaufmann gestaltet war und ihm so gut gefiel, dass er auf die Idee kam, Kaufmann zu fragen, ob er sein Theater bauen will. Das war der erste Auftrag an Oskar Kaufmann, der später mit dem Renaissance-Theater und der Volksbühne zu einem der wichtigsten Theaterarchitekten wurde.

War damals mit Theater Geld zu verdienen?

Das Theater vor dem Ersten Weltkrieg und in den 20er-Jahren lässt sich vielleicht mit der Popmusik in den 80er-Jahren vergleichen. Da bestand die Chance zum Aufstieg, man konnte fett Geld verdienen oder eine schöne Pleite hinlegen. Das Kino war noch nicht da und Theater die populäre Form der Massenunterhaltung.

Da mischte das Hebbel-Theater erfolgreich mit?

Anfangs ging es dauernd pleite, dann wurde das Haus in den 20er-Jahren von dem Rose-Verband übernommen, den wichtigsten Theaterindustriellen und großen Konkurrenten von Max Reinhard. Als ich gelesen habe, wer hier dann alles aufgetreten ist, wurde mir fast ein bisschen schlecht: Hans Albers, Elisabeth Bergner, Heinrich George – alles, was Rang und Namen hatte.

Ist allein die Konkurrenz des erstarkenden Kinos verantwortlich für das Ende der Theater als erfolgreiche Privatunternehmen?

Es gibt eine Ideologie, die heißt das deutsche Stadttheatersystem. Da wird oft suggeriert, dass es den kurfürstlichen Strukturen entstammt, jedem Kleinstaat seine Bühne. So weit ist das richtig. Aber die Subventionierung des deutschen Stadttheatersystems geht auf Josef Goebbels zurück, und damit wurde gleichzeitig das Ende des privatwirtschaftlichen Charakters vieler Theater eingeläutet. Um die Theater gleichzuschalten, wurden sie staatlich alimentiert. Das Deutsche Theater zum Beispiel wurde in das Budget der Stadt Berlin übernommen. Mit dem Aufbau der Struktur von öffentlichen Subventionen war die politische Einflussnahme verbunden. Auch das Hebbel-Theater wurde in den 40er-Jahren streng faschistisch. Die Geschichte des Hauses ist voller Brüche, und es war teilweise ein ungeliebter Wechselbalg.

Nele Hertling begann hier in den 80er-Jahren mit einem Programm internationaler Gastspiele. Davor stand es zehn Jahre lang leer, sogar der Abriss stand zur Disposition. Warum ließ man so ein schönes Haus so verkommen?

Im Westberlin der 70er-/80er-Jahre war das hier eine Mauerrandlage, das Ende der Welt. Bis 1978 war es geprägt durch eine Boulevardtradition: Im Großbeerenkeller, der Kneipe hier um die Ecke, sieht man die Fotos der Boulevardschauspieler, Götz George, Inge Meysel, Günter Pfitzmann. Andererseits hatte Westberlin das Gefühl, wir sind doch mit dem Schillertheater und der Schaubühne ganz gut ausgestattet.

In diesem Januar feiert das HAU 100 Jahre Hebbel-Theater, dazu gehört am 18. und 19. Januar ein thematisches Wochenende: „Re-Education – You too can be like us“. Worum geht es da?

Im Jahr 1945 war das Hebbel-Theater in den Westbezirken als Einziges unzerstört geblieben. Die russische Besatzungszone begann schnell, für das Deutsche Theater einen antifaschistischen Spielplan aufzustellen und Theater ideologisch zu nutzen. Das machte den Amis Druck, sie wollten sich positionieren. Es gab das Programm der Re-Education des deutschen Volkes, die Umerziehung von den Nazis zu Demokraten, mit Slogans wie „You too can be like us“ oder „American way of life“. Für das Theater gab es eine Stückliste, mit Tennessee Williams, Thornton Wilder, Titelempfehlungen, um das Land zu demokratisieren. Man spielte die „Dreigroschenoper“, die „Fliegen“ von Sartre. Fritz Kortner hat hier den „Don Carlos“ inszeniert: das war als deutliche Abrechnung mit dem System des Faschismus zu lesen.

Warum berührt Sie gerade diese Zeit so sehr?

„You too can be like us“, das ist ja wahr geworden, die Deutschen sind heute die besten Gefolgsleute der Amerikaner in Europa, da liegt auch eine Tragik drin.

Gehört der Gedanke, mit Theater zur demokratischen Erziehung beizutragen, nicht der Vergangenheit an?

Wenn das nur ein historisches Phänomen wäre, wäre das nicht so interessant. Aber heute versucht die amerikanische Politik, das erfolgreiche Umerziehungsmodell von Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Irak zu übertragen – ungleich erfolgloser. Da versuchen wir eine Brücke zu schlagen bis in die Gegenwart. Francesco Vezzoli setzt sich mit Spots für den amerikanischen Wahlkampf auseinander und der libanesische Regisseur Rabih Mroué erforscht die Rolle der „Märtyrer“ in der Bildpolitik des Bürgerkrieges in Beirut.

Ein anderes Projekt im Januar bezieht sich auf Douglas Sirk, den amerikanischen Filmregisseur.

Im Jahr 1931, als er noch Detlev Sierks hieß, hat er hier ein Boulevardstück inszeniert. Er war damals Schauspieldirektor in Leipzig. Anfang der 30er-Jahre musste er das Weite suchen. Seine späteren Melodramen waren sehr einflussreich beispielsweise für die Arbeit von Fassbinder. Die Big Art Group aus New York bezieht sich mit ihrer Performance, die sie zum 100-Jährigen des Hebbel-Theaters entwickeln, auf seinen berühmten Film „Imitation of life“. Im ausgeräumten Zuschauerraum und auf der Bühne stehen sechs Leinwände für ihre Videoinstallation. Das ist eine Form von Geisterbeschwörung. In „Imitation of life“ geht es um eine Geschichte zwischen Weißen und Schwarzen. Die Tochter des schwarzen Dienstmädchens versucht ihre Mutter wegen deren Hautfarbe zu verleugnen – da packte Douglas Sirk alle Erfahrungen des jüdischen Verfolgtseins in Deutschland mit hinein und übersetzte es in ein opulentes Spektakel.

Als Sie hier vor viereinhalb Jahren angefangen haben, gab es den Anspruch, zwei weit auseinanderliegende Größen unter einen Hut zu kriegen: einerseits der lokalen Kultur den Rücken zu stärken und den Standort in Kreuzberg ernst zu nehmen, und andererseits viele Fenster zu Kulturen zu öffnen, von denen man hier wenig weiß, wie die Theaterszene Brasiliens oder aus Beirut. Von diesem Anspruch hat es noch keine Abstriche gegeben?

Nein. Wenn die Big Art Group aus New York oder das Living Dance Studio aus Peking auf Hans-Werner Kroesinger oder Rimini-Protokoll treffen, das geht ganz gut auf. Ich habe den Eindruck, dass die Kneipe, das WAU, als Treffpunkt der verschiedenen Leute gut funktioniert und wir da eine Belebung hinbekommen haben. Vor zwei Jahren haben wir mit der Reihe Beyond Belonging relativ deutlich ein Thema, die Migration, benannt. Da haben wir versucht, unsere Arbeit mit Istanbuler Künstlern und mit der türkischen Community hier zu verbinden und sind ganz gut vorangekommen. Jetzt ist die Frage, welches Thema benennen wir als nächstes, wie bekommen wir da wieder eine Polemik hin, wie befreien wir uns aus der Umarmung durch die Politik?

Was meinen Sie damit?

Im Moment überlegt André Schmitz, der Staatssekretär für Kultur, eine große Initiative rund um das Thema Migration. Als wir 2005 mit Feridun Zaimoglus „Schwarzen Jungfrauen“ rausgekommen sind, gab es noch einen großen Unglauben gegenüber dem Stoff. Inzwischen trifft das auf Wohlwollen von allen Seiten. Das hat aber Grenzen, nämlich dann, wenn man nachfragt, was denn mit den illegal hier Lebenden ist. Wenn es nicht nur um das Feiern deutsch-türkischer Biografien geht, sondern darum, doch bitte alle Menschen zu legalisieren, die hier leben. Es doch bitte so wie Kanada zu machen: Alle Menschen, die 2008 hier leben, bekommen die deutsche Staatsbürgerschaft, damit basta. Da kommt man an Grenzen. Wir haben sehr gefochten für eine libanesische Familie, deren Kinder mit der Choreografin Constanza Macras arbeiten – ihre Aufenthaltserlaubnis lief am 31. Dezember 2007 wieder ab. Da ist die Grenze des Wohlwollens schnell erreicht. Herr Körting hat Briefe von mir nie beantwortet.

Wenn in letzter Zeit von Freiem Theater die Rede ist, hört man sehr schnell, dass fast jeder, der da etwas erreichen will, sich irgendwann auch mal um Mittel des Hauptstadtkulturfonds bewerben will und deshalb in Berlin eine Bühne sucht. Haben Sie das Gefühl, das HAU ist zu einem Nadelöhr geworden, wo jeder durch will, der eigene Theaterprojekte hat?

Damit sind wir einfach nur Teil einer Landschaft mit dem Theaterdiscounter, den Sophiensælen, Ballhaus Ost, Dock 11 und Radialsystem. Trotzdem ist es ein Problem, einen Topf wie den Hauptstadtkulturfonds nur in Berlin zu haben. Das müsste es in Dresden, Leipzig, Hamburg und München auch geben.

Gleich Anfang Januar kommt eine Produktion von Johan Simons, „Das Leben ein Traum“. Johan Simons haben Sie von Anfang an viel an dieses Haus geholt. Kommt er ihrem Traum von Theater am nächsten?

Ich schätze ihn sehr wegen seiner Verspieltheit. Und weil er eine Lust hat, über Schauspieler Geschichten zu erfinden. Johan Simons bekommt dabei eine große Genauigkeit hin. Er hat die postmoderne Phase des Theaters in den 90er-Jahren verpasst und wurde dann Anfang dieses Jahrhunderts plötzlich wichtig, weil er eine große Intellektualität mit Schauspielerführung verbindet.

Ihm folgt ein Stück von Rimini Protokoll, die oft an ihrem Haus arbeiten.

„Breaking News“ von Helgard Haug und Daniel Wetzel ist eine Geschichte über Nachrichten. Mehrere Übersetzer schauen und übersetzen zwölf internationale Nachrichtenkanäle, aus Venezuela, Pakistan, Deutschland, den USA usw. Die Hauptdarsteller sind die Nachrichten des Tages, und es gibt ein paar Experten, die sich dazu verhalten.

Machen einen diese vielen Informationen nicht müde?

Es geht heute darum, dass man mit übergenauen Informationen entmündigt wird. Das Thema unserer Tage ist: Wie geht man mit Medialisierung um? Wie denken wir eine Linke neu im Überfluss von Medien, während wir selbst zappen und im Internet surfen.

Programm unter www.hebbel-am-ufer.de