die taz vor 17 jahren über die wiedergeburt von großmachtträumen in der sowjetunion
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Die Berufung auf die „letzten Dinge“, die religiöse Dienstverpflichtung, nimmt bei den sowjetischen Staatsmännern überhand. Verteidigungsminister General Dimitri Jasow hat verlauten lassen, es sei die „heilige Pflicht der heutigen und künftiger Generationen, den Status der UdSSR als Großmacht zu erhalten“. Nicht daß es in der Sowjetunion neu wäre, „das Heilige“ in den Dienst profaner Machtpolitik zu stellen: Vom Schwur Stalins an Lenins Grab bis zur Heiligung der sozialistischen Weltgemeinschaft zieht sich der Gebrauch religiöser Pathosformeln in der Sowjetunion im Augenblick der Krise. Es geht nicht darum, zum x-ten Mal den Verfall einer Ideologie zu beklagen, an deren Anfängen immerhin die Forderung stand, Religion als eine entfremdete Form menschlicher Bedürfnisse zu begreifen. Vielmehr gilt es, die konkrete Funktion dieses Revivals des Heiligen dingfest zu machen. Was ist das Allerheiligste? Die russische Erde. Nicht umsonst hat Gorbatschow kürzlich gemahnt, das Werk des Zaren Iwan Kalita, des „Sammlers der Erde“, nicht zu zerstören. Wir sind Zeuge einer unheiligen Allianz zwischen dem großrussischen Nationalismus und der um den Erhalt ihrer Macht kämpfenden zentralen sowjetischen Bürokratie. Aggressiv ist diese Allianz deshalb, weil es ihr um den Erhalt des Großreichs geht – notfalls mit Gewalt. Denn wo das Heilige bemüht wird, ist die Legitimation für den Heiligen Krieg nicht fern. Profan und vernünftig wäre es gewesen, die neue Sowjetunion auf der Grundlage gleichberechtigter Verhandlungen der Ex-Sowjetrepubliken zu bilden – und jene ziehen zu lassen, die es unbedingt wollen. Lange Zeit schien es so, als ob dies die Haltung des „Westlers“ Gorbatschow wäre. Der Rücktritt Eduard Schewardnadses ist ein Alarmzeichen dafür, daß Gorbatschow diesen „zivilen“ Weg verlassen will. Wer für eine heilige Sache kämpft, denkt nicht in den Kategorien des Kompromisses und des Ausgleichs.Christian Semler, 4. 1. 1991