Eine kollektive Israel-Reportage

Aus Anlass des 60. Jubiläums der Staatsgründung Israels hat das Jüdische Museum eine sehr interpretationsoffene Ausstellung seines New Yorker Pendants nach Europa geholt – aktuelle Fotografie und Videokunst über die Konflikte im israelischen Alltag

Ist Israel nicht wie jedes Land mehr als die Summe seiner Konflikte?

VON YARDEN MICHAELI

Erstes Bild: das moderne Tel Aviv – geschäftig, überfüllt und belebt. Doch die Stadt auf dem Bild ist in einem leichten Orange gehalten, wie es alten Fotografien eigen ist. Wolfgang Tillmans konfrontiert Besucher der Ausstellung „Betrifft: Israel, aktuelle Fotografie und Videokunst“ im Jüdischen Museum mit einem für Israel typischen Kontrast – der Gleichzeitigkeit von Modernisierung und den Schatten der Vergangenheit. Im Mai feiert Israel das 60. Jubiläum der Staatsgründung, was sich das Jüdische Museum Berlin zum Anlass genommen hat, diese Ausstellung seines New Yorker Pendants zum ersten Mal nach Europa zu holen. Die Ausstellung versucht, aktuelle künstlerische Blicke auf das moderne Leben im Land und die Konflikte im noch relativ jungen Staat zu präsentieren.

Die Sujets der gezeigten Fotos und Videos von 22 Künstlern aus Israel, Europa und den Vereinigten Staaten bewegen sich von der Tradition zu Identität und weiter von Ritualen zu Landschaften. Die einzelnen Teile dieser kollektiven Bildreportage ergänzen sich gegenseitig, indem sie sich auf Ereignisse der letzten Jahre konzentrieren. „Wir haben an der Ausstellung in der Zeit nach der zweiten Intifada gearbeitet“, sagt Kuratorin Susan Tumarkin Goodman vom Jewish Museum New York. „Damals standen Fotografen und Videokünstler bei jedem wichtigen Ereignis in der ersten Reihe.“

Nach dem orangefarbenen Foto von Tel Aviv ist Yael Bartanas sechs Minuten langes Video „Trembling Time“ zu sehen. Es zeigt eine abendliche Autobahn am Jom Ha-Sikaron, dem offiziellen Gedenktag für die gefallenen Soldaten. Eine Sirene ertönt, alle Autos halten langsam, die Insassen steigen aus. Für einen Moment der Stille verharren sie neben ihren Autos. Als der Höhepunkt dieses Rituals erreicht ist, verlangsamt sich der Film und betont so die Präsenz des Todes im öffentlichen Gedächtnis. Er ist eines der wichtigsten Themen und im Alltagsleben stets präsent, wenn auch nur im Halbdunkel.

Es ist der Blick Bartanas auf diesen Umstand, der die Kuratoren bewegt hat, ihre Arbeit in die Ausstellung aufzunehmen. „Die Tatsache, dass Künstler aus der Region kommen, war nicht ausschlaggebend für uns“, sagt Goodman, der thematische Zugang sei das Entscheidende gewesen. Das Ergebnis dieses Auswahlkriteriums ist eine Vielzahl verschiedener Ansätze. Barry Frydlender etwa benutzte den Computer, um viele Einzelfotos zu einem Panorama zu montieren, das quer durch die Zeit reicht. Er nahm an einer Versammlung von „Haredim“, orthodoxen Juden, am Feiertag Lag Ba Omer teil und schoss über Stunden hinweg, aber immer vom selben Standpunkt aus, seine Fotos. Kombiniert präsentieren sie eine fiktive Realität, die so nie zu sehen war. Menschen, die zu verschiedenen Zeiten am Ort waren, scheinen nun miteinander zu sprechen, manche Besucher erscheinen mehrmals. Frydlenders Bild macht die Inkongruenz des religiösen Lebens mit dem Dasein in einer modernen Welt deutlich.

Sein Kollege Pavel Wolberg ist Pressefotograf, der jedes Jahr tausende von Fotos macht, die von seiner Agentur weltweit verbreitet werden. Hin und wieder sichtet er das Material, um ihm besonders gut erscheinende Bilder seinem künstlerischen Werk einzuspeisen, das dann in Galerien und Kunstausstellungen zu sehen ist. Eines der hier gezeigten Bilder ist ein ganz einfaches Foto, das den Moment eines Kampfes zwischen israelischen Polizisten und Siedlern während der Evakuierung der Siedlungen in Gaza im Jahr 2005 einfängt.

Wolbergs Fotos präsentieren wie Schnappschüsse vergangene Momente, auch bei ihm geht es um die Folgen der Konflikte im Land. Viele weitere Arbeiten verdanken sich politischen Ereignissen, und ihr Subtext scheint der Verweis auf die andere Seite des Staatsjubiläums zu sein, nämlich auf den nicht stattgefundenen Unabhängigkeitstag des Staates Palästina. Die Geschichte dieses Mangels und seiner Konsequenzen, die so alt ist wie Israel selbst, lauert im Hintergrund fast jeden Bildes in dieser Ausstellung.

„Wir haben versucht, uns nicht auf israelische Kunst zu konzentrieren, sondern auf Israel als Land“, sagt Goodman. Die meisten hier vertretenen Israelis gehören zu Hause zu den führenden Künstlern, und es ist aufschlussreich, sie mit Künstlern von außerhalb zu vergleichen. Israelis neigen dazu, und manchmal auch mit gutem Grund, sich über die verquere Außenwahrnehmung zu beschweren, die sich oft als ignorant erweist, wenn es um das geht, was den Israelis als ihr „eigentlicher“ Alltag erscheint. Doch einem Besucher, der die Namen der Künstler nicht kennt, würde es wohl schwer fallen, ihre Herkunft zu benennen. Auch Kuratorin Goodman stellt fest: „Die Ergebnisse waren sehr ähnlich, große Unterschiede lassen sich nicht festmachen.“

Aber auch die Reaktionen in New York und Berlin scheinen sich zu gleichen. Hier wie dort wurden Stimmen laut, die bemängelten, man sehe zwar viel Alltag, aber zu wenig von den realen Brennpunkten des Konflikts. Tina, eine junge Besucherin in Berlin, merkt etwa an, es fehle ein Blick von außen, ein distanzierter kritischer Beobachter. Einzelne Arbeiten nähmen diese Perspektive durchaus ein, etwa Catherine Yass’ Arbeit über den Sicherheitszaun. Diese Einschätzung offenbart recht deutlich die Kluft zwischen einer Wahrnehmung, die durch medial inszenierte Symbole strukturiert wird, und einer Alltagserfahrung, die ganz anderes im Blick hat. Der kritisch auf die Ausstellung blickende Israeli kommt nämlich zu einem ganz anderen Schluss: Es ist die „normale“ Alltagskultur, die in dieser Ausstellung gerade nicht zu sehen ist. Schließlich ist Israel, wie jedes andere Land, mehr als die Summe seiner politischen Konflikte – eine Tatsache, die man gern vergisst.

Leute, die Israel von Besuchen kennen, reagieren in der Ausstellung wiederum überrascht über die „neuen Seiten“, die ihnen hier präsentiert werden. Mancher sucht sogar nach etwas ganz anderem: „Wir sind eigentlich wegen der Erinnerungen in die Ausstellung gekommen, die wir an unsere Besuche in den Siebzigern haben“, sagt etwa das Ehepaar Kaczmarczyck. Die Ausstellung ist noch bis 24. Februar zu sehen, offen für viele Interpretationen.

Yarden Michaeli ist als Teilnehmer des Austauschprogramms Middle East der Internationalen Journalisten-Programme derzeit in der taz tätig. Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair.