Polarisierende Aussagen

Auf einer Diskussionsveranstaltung im migrantisch geprägten Bremen-Osterholz hat die Islamkritikerin Seyran Ates einen schweren Stand: Viele der muslimischen SchülerInnen empfinden ihre Thesen zu Zwangshochzeiten als Angriff auf die eigene Identität

Es war eine junge Lehrerin mit pakistanischen Wurzeln, die in der emotional aufgeladenen Atmosphäre diskursive Übersicht bewies: „Wird der Islam von den Extremisten oder von den Rassisten beschmutzt?“, formulierte sie die entscheidende Frage. Ob also Fundamentalisten eine möglicherweise unzulässige Koran-Exegese nutzen, um an der Praxis der Zwangsehen festzuhalten – oder nicht doch Islamhasser im Westen die Religion aus niederen Beweggründen mit den erzwungenen Partnerschaften in Verbindung bringen.

Um die Antwort war zu diesem Zeitpunkt bereits eine ganze Weile mit harten Bandagen gestritten worden. Das Schulzentrum Walliser Straße, inmitten des migrantisch geprägten Bremer Stadtteils Osterholz gelegen, hatte zu einer Podiumsdiskussion eingeladen: „Zwangsverheiratungen – ein kulturelles oder religiöses Problem?“. Und neben gut 500 OberstufenschülerInnen und dem Beauftragten der Senatskanzlei für kirchliche Angelegenheiten, Helmut Hafner, war auch eine kleine Berühmtheit in die Schulaula gekommen.

Als – „darf ich das so sagen?“ – Feministin hatte der Schulleiter sie angekündigt: Seyran Ates, streitbare deutsch-türkische Rechtsanwältin aus Berlin, die durch einen publizistischen Feldzug gegen den „Multi-Kulti-Wahn“ bekannt wurde. Der Rolle blieb sie treu: „Man muss den Islam kritisieren dürfen“, sagte Ates – und dieses Recht gedenke sie auch gegen jene Deutsche zu behaupten, die sie immer mit dem Verweis auf „Tradition, die ja wohl nicht so schlimm sein“ könne, beschwichtigen wollten. „Zwangsehen hängen mit der Religion zusammen“, so Ates weiter. „Die Kinder werden verheiratet, um ihre Sexualität zu kontrollieren.“

Der Senatsbeauftragte Hafner wurde ausgebuht, weil die Theater-AG der Walliser Straße mit ihrer „Romeo und Julia“-Inszenierung nicht bei der von ihm organisierten „Nacht der Jugend“ im Rathaus hatte auftreten dürfen. Hafner hatte darum gebeten, Zitate der radikalen somalischen Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali durch versöhnlichere Passagen zu ergänzen – wegen „einseitiger Pauschalität“. Die AG hatte das abgelehnt. Der für die Inszenierung verantwortliche Lehrer verteidigte das so: „Durch die polarisierenden Aussagen kam eine richtige Diskussion in Gang.“

Das war am gestrigen Donnerstag auch der Fall. Was den Krawall-Faktor anging, stand die Diskussion streckenweise einer jener nachmittäglichen Privatfernseh-Talkshows nicht nach – nur der Frontverlauf war deutlich unübersichtlicher. Viele SchülerInnen waren mit Kopftuch in die Walliser Straße gekommen, eine Muslima zitierte im Laufe der Diskussion Koranverse und beendete ihre Ausführungen mit dem Satz „Ich bin stolz auf meinen Gott.“ Eine junge Lehrerin berichtete aus ihrem Heimatdorf an der türkischen Schwarzmeerküste, wo arrangierte Hochzeiten zwar üblich seien, junge Mädchen jedoch den vorgesehenen Ehemann ebenso gut ablehnen könnten. „So kenne ich das – und das ist doch kein Zwang.“ Eine ebenfalls migrantische Kollegin entgegnete, ihre kleine Cousine sei „mittlerweile meine Tante, weil sie gegen ihren Willen mit meinem Onkel verheiratet wurde“. Sie bekam Rückendeckung aus dem Kollegium: Eine Schülerin sei von ihrem Bruder dabei beobachtet worden, wie sie sich im Schulgebäude mit einem Berufsberater des Arbeitsamtes unterhielt. Das Mädchen sei nach dem Tag nie wieder in die Schule gekommen. „Später haben wir erfahren, dass sie in Berlin gegen ihren Willen verheiratet wurde.“ Es gebe ein „Sommerferienphänomen“: Oft kämen junge TürkInnen nach den Ferien nicht mehr in die Schule zurück, weil sie in der Zwischenzeit verheiratet worden seien. „Immer wieder“, berichtete eine Schulleiterin „haben Mädchen deshalb Angst, sitzenzubleiben, weil ihre Eltern sie dann von der Schule nehmen und sofort verheiraten.“

Ates sah sich bestätigt. „Auch wenn das hier einige nicht gerne hören: Der Islam muss reformiert werden. Und daran wird bereits gearbeitet – und zwar weltweit.“

Der für sein Harmoniebedürfnis bekannte Hafner stand da mit seinen um Konsens bemühten Beiträgen auf verlorenem Posten: „Wir brauchen keine starken Sprüche, sondern Zugang zu den Familien“, sagte er. Dabei könnten „liberale Imame und Kopftuchfrauen wichtige Verbündete sein“. Seit dem 11. September sei eine zunehmende Islamophobie zu verzeichnen, so Hafner, und entsprechend werde auch die Kritik an den Zwangshochzeiten zur Stigmatisierung des Islams insgesamt missbraucht.

Doch seine gut gemeinte Einlassung ging etwas ins Leere: Viele der muslimischen Jugendlichen sahen in Ates’ Position einen Angriff auf ihre Identität. Ein modisch gekleideter junger Türke mit angedeuteter Irokesenfrisur hielt ihr entgegen: „Sie glauben, sie müssten hier alle Leute aufklären mit ihrem Buch. Dabei sind Zwangsehen unislamisch. Ein frommer Moslem braucht ihr Buch nicht. Ein frommer Moslem braucht den Koran. Und wenn ich höre, wie sie hier von ‚Reform des Islam‘ reden – das finde ich abartig, da kriege ich Brechreiz.“ Ein ebenfalls sehr schicker junger Araber schlug in die gleiche Kerbe, überspannte jedoch den Bogen: Er verteidigte das Kopftuch bei sehr jungen Mädchen mit dem Argument, dass „in heißeren Ländern die Frauen früher geschlechtsreif werden“.

Darüber zeigte sich eine türkische Schülerin „entsetzt“: „Ich bin 18 und noch längst keine fertige Persönlichkeit“, sagte sie. „Wie kann man da von ‚Zustimmung‘ zu einer Hochzeit bei Zwölfjährigen reden?“ CHRISTIAN JAKOB