jugend liest
: Regeln und Verstöße: Klassiker der Jugendliteratur in schönen neuen Ausgaben

Thomas Schäfer-Elmayer leitet in dritter Generation Wiens berühmteste Tanz- und Benimmschule. Wie man sich auf dem Opernball beträgt und wie man eine „marktoptimierte Unternehmenskultur“ aufbaut, das kann man bei ihm lernen. Etikette gilt für ihn immer und überall, und deshalb heißt sein Standardwerk zum Thema einfach „Der Elmayer“. Dessen erste Fassung erschien 1957. Seither gibt es etliche Aktualisierungen und jetzt auch noch den „kleinen Elmayer“ für Kinder. Ästhetisch betrachtet handelt es sich dabei um ein buntes Sammelsurium an Schrifttypen und eher kindischen als kindlichen Illustrationen, inhaltlich um eine Zusammenfassung der wichtigsten Regeln: bitte und danke sagen, sich entschuldigen, Hände waschen, Ellbogen vom Tisch usw. Erstaunlich ist der Anspruch auf Absolutheit und Gehorsam. Die Leitfrage, nach der Kinder zu leben lernen, lautet: Wie kann ich es anderen recht machen? Ziel ist es, sich so zu verhalten, dass bloß niemand schlecht von einem denkt.

Eine Zeit, die solche Bücher gebiert, ist reif für Wilhelm Busch. Da passt es gut, dass sich gerade sein 100. Todestag gejährt hat. Aus dem großen Jubiläumsangebot reicht das schöne Wilhelm-Busch-Buch der Ars Edition heraus. Eingestiegen wird klassisch mit „Max und Moritz“, die den Zeichner der handkolorierten „Münchner Bilderbogen“ reich machten. Als Klassiker, wenn auch nicht für Kinder, unübertroffen ist aber vor allem die Fromme Helene, deren ungestüme Lebensneugier sie immer wieder in Konflikt mit der Etikette und anderen Regeln bringt, bis sie schließlich in der Hölle landet. Der brave Bürger Nolte reimt sich das so zusammen: „Ei ja! – da bin ich wirklich froh! Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!!“ Das ist der Anti-Elmayer Busch at his best.

Um Regeln und Verstöße geht es auch in einem anderen Klassiker: Der Zürcher Kein & Aber Verlag hat „Alice im Wunderland“ in einer bibliophilen Neuausgabe herausgebracht. Alices Kampf um den sozialen Schmierstoff beschreibt der Übersetzer Christian Enzensberger im Nachwort so: „Carrolls Bücher handeln von der Gesellschaft. Hier, und fast nur hier, besteht Alice ihre Abenteuer; ihr wahrer Schauplatz ist das Parkett; der Kampf geht um die Schicklichkeit; die Waffe ist das Wort. Die Hinrichtungen der Herzkönigin sind nur Spaß; die wahren Exekutionen finden im Gespräch statt. In den Ländern, die Alice durchwandert, stirbt man die Tode der Verlegenheit und des Verstummenmüssens; man wird nicht ermordet, sondern mundtot gemacht; und nicht die Gurgel wird einem abgeschnitten, wohl aber die Antwort.“ Treffender hätte man die Macht und Begrenztheit gesellschaftlicher Regeln nicht beschreiben können.

Und nun noch ein kleiner Tipp zu zwei Klassikern, bei denen das Überschreiten von Regeln ein sehr selbstverständlicher und unbedrohlicher Motor der Geschichte ist. „Das rote U“ und „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“, 1932 und 1967 erschienen und nun in der dtv-junior-Reihe wieder aufgelegt, sind frei von erzieherischem Furor und vielleicht gerade deshalb so liebenswert. Diese Autoren schaffen es wirklich, sich in die Kinder, für die sie schreiben, hineinzuversetzen. Sie erwarten nichts von ihnen außer ihrer Aufmerksamkeit – ihre Geschichte betrachten sie als Geschenk, für das sie keine Gegenleistung wollen. Nicht einmal ein Dankeschön. ANGELIKA OHLAND

Thomas Schäfer-Elmayer, Friederike Großekettler: „Der kleine Elmayer. Mein erstes Buch vom guten Benehmen“. Annette Betz Verlag, Wien 2007. 32 Seiten, 12,95 Euro Das große Buch von Wilhelm Busch. Ars Edition, München 2007. 132 Seiten, 16,95 Euro Lewis Carroll: „Alice im Wunderland“. Aus dem Englischen von Christian Enzensberger. Kein & Aber, Zürich 2007. 136 Seiten, 24,90 Euro Wilhelm Matthießen: „Das rote U“. Dtv, München 2008. 172 Seiten, 5,95 Euro Boy Lornsen: „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“. Dtv, München 2007. 333 Seiten, 8,95 Euro