Flageoletts für eine bessere Welt

Herbert Brün gilt als bedeutender Komponist, doch tatsächlich ist seine Musik kaum präsent. Das Ultraschall-Festival widmete ihm nun einen ganzen Tag, an dem die Widersprüche des Manns deutlich wurden, der die Realität für „eine Scheiße“ hielt

VON BJÖRN GOTTSTEIN

„Traglast 5 Tonnen“, warnt das Schild auf dem Stahlträger, der sich quer durch den Saal zieht. Ein wenig bangt man, dass er unter dem Gewicht des geistig-theoretischen Gebildes, das auf der Bühne ausgebreitet wird, zusammenbrechen könnte. Dort nämlich wird über Herbert Brün geredet, wird seine Musik gespielt, werden seine Computergrafiken gezeigt, ist ein altes Rundfunkgespräch zu hören, in dem er laut über das Verhältnis von musikalischen Proportionen zu musikalischen Räumen nachdenkt. Es ist ein komplexes gesellschaftspolitisches, technisches und natürlich musiktheoretisches Gedankenkonstrukt, das dieser wilde Denker der musikalischen Avantgarde hinterlassen hat.

„Ein Tag mit Herbert Brün“, zu dem das Festival Ultraschall am Dienstag ins Radialsystem geladen hatte, sollte die Lücke schließen, die zwischen der stets bereitwillig unterstellten Bedeutung Brüns und seiner tatsächlichen eher mageren Präsenz im Musikleben klafft. Brün, 1918 in Berlin geboren, versprach im palästinensischen Exil zunächst, ein recht ordentlicher Komponist zu werden. Als er in den Fünfzigerjahren aber die elektronische Musik entdeckte, war es um ihn geschehen. Der Computer wurde fortan zur Raison d’être seiner Arbeit. Gleichzeitig reifte in ihm die Überzeugung, dass eine bessere Welt möglich sein müsse. „Die Realität ist eine Scheiße, nach der wir uns nicht richten dürfen“, ist einer der vielen schöne Sätze, die von Brün überliefert sind.

Seit 1963 lebte Brün in den USA, in der provinziellen Abgeschiedenheit der University of Illinois in Urbana-Champaign, wo auch der Kybernetiker Heinz von Foerster lebte, lehrte und das Biological Computer Laboratory unterhielt. Brün und von Foerster verband eine enge Freundschaft, die Spuren im Denken beider hinterlassen hat. Bei Brün gehörte dazu das Diktum, dass man nie fragen dürfe, ob einem das Stück gefallen habe, sondern nur, ob man sich selbst in der Gegenwart des Stückes gefallen habe. Dazu gehört auch die Überzeugung, es sei eine Zumutung, vom Musikhörer zu verlangen, dass er etwas versteht. Dazu gehörte auch die These, dass Schüler mit Fragen, deren Antworten bekannt und als richtig oder falsch klassifizierbar sind, in triviale, harmlose, berechenbare Maschinen verwandelt werden. Davon berichtete am Dienstagnachmittag unter anderen Susan Parenti, eine langjährige Weggefährtin Brüns, die mit ihm die School for Designing a Society gründete und seinem Performers’ Workshop Ensemble angehörte. Die Gesprächsrunde mit Brüns Freunden und Kollegen förderte interessante Einzelheiten und viele Anekdoten zutage. Aber ein umfassendes Bild blieb die Veranstaltung schuldig. Immerhin wurde im Laufe des Nachmittags klar, dass der Rezeption Brüns eine Person ganz besonders im Wege steht, nämlich Brün selbst.

Brün steckt voller Widersprüche. Während er ein offenes und freies Denken propagierte, war er von seinen Positionen derart überzeugt, dass er kein Widerwort duldete. Während er in der Musik den Schlüssel zu einer besseren Welt erkannte, arbeitete er sich an den Tücken des Alltags ab, empörte sich über die Besserwisserei des „I told you so“ und komponierte Klavierstücke mit pennälerhaftem Humor wie „The laughing third“ („Der lachende Dritte“ oder „Die lachende Terz“).

Greifbar wurde Brüns musikalische Größe erst im abschließenden Konzert, als zwei seiner Streichquartette durch Werke von Johann Sebastian Bach, Franz Schubert und seinem Lehrer Stefan Wolpe flankiert wurden. Beredt und ein klein wenig unwirsch kommen diese Stücke daher. Mit ihrem am Sprachcharakter der Musik festhaltenden Gestus setzen sie sich deutlich vom Zeitgeist der Fünfziger- und Sechzigerjahre ab. Brün hatte auch kein besonderes Ohr für den schönen, eleganten, gar feinen Ton, was übrigens auch für seine elektronische Musik gilt, die er mit einfachen Maschinen und groben Sounds realisierte. Da wunderte es nicht, dass sich das Pellegrini-Quartett zunächst ein wenig schwertat, seinen berühmten warmen, hölzernen Ton in diese Musik hineinzulegen. Erst zum Ende des Konzert, in Brüns drittem Streichquartett, wo der Komponist sich plötzlich auf die akustische Peripherie der Streichinstrumente verlegt, auf glissandierende Flautandi und zart tremolierende Flageoletts, ahnte man auch als Hörer, dass in dieser Musik etwas anklingt, was auf eine bessere Wirklichkeit verweist. Und oben ächzte, ganz leise, der Stahlträger unter 5 Tonnen Utopie.