Mehr Wachstum durch mehr Liberalisierung

Teils drastische Maßnahmen sollen Frankreichs „Wirtschaftshindernisse“ kippen. Proteste kommen aus allen Lagern

PARIS taz ■ Das „Wachstum befreien“ – so lautet der Titel der 314 Vorschläge, die Jacques Attali am Mittwoch dem französischen Staatspräsidenten überreicht hat. Sie sollen „Wirtschaftshindernisse“ kippen. Und bis ins Jahr 2012 den von Nicolas Sarkozy versprochenen zusätzlichen Wachstumspunkt verschaffen. Attali will alles anders organisieren: von den Kindergärten bis zu den Taxiunternehmen und Apotheken, von den Steuern über die Arbeitszeitregelung bis hin zu den Universitäten.

Auf Anhieb hat der Spitzenbeamte und Wirtschaftswissenschaftler damit Proteste auf allen Seiten ausgelöst: von den Gewerkschaften, die um die Reste des Arbeitsrechtes fürchten, bis hin zu den Abgeordneten sämtlicher Parteien, insbesondere der rechten UMP. Eineinhalb Monate vor den Kommunalwahlen in Frankreich empfinden sie es als Katastrophe, dass Attali die Départements abschaffen will, die seit der Revolution die Basis der territorialen Organisation Frankreichs sind. Angesichts der Protestwelle hat UMP-Fraktionschef Jean-François Copé erklärt, vor der Umsetzung der Vorschläge habe das Parlament ein Wörtchen mitzureden.

Jacques Attali ist heute ein zentrales Stück der politischen „Öffnung“ von Nicolas Sarkozy. Ursprünglich kommt er aus der Linken und diente jahrelang dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand als Sherpa. Damals prägte Attali unter anderem eine Regel, die er heute ignoriert: „Mehr Wachstum bedeutet keineswegs eine Reduzierung der sozialen Ungleichheiten.“

Der Staatspräsident persönlich hatte Attali und seiner 43-köpfigen Kommission den Auftrag im vergangenen August erteilt. Grundlage für die Arbeit war Sarkozys Wahlprogramm. Es sah eine Liberalisierung der Wirtschaft und mehr Wachstum vor. Frankreichs Wirtschaftswachstum ist in den vergangenen Jahrzehnten von über fünf auf zuletzt unter zwei Prozent gesunken. Attali ist vor allem von der angelsächsischen Welt inspiriert. Seine Vorschläge würden zahlreiche französische Säulenheilige stürzen. So will er die nationale Schulkarte streichen, die jedem Kind einen wohnortabhängigen Schulplatz zuweist. Er will zehn Eliteuniversitäten einrichten, die zu 80 Prozent privat finanziert werden sollen. Er möchte die Beihilfen an Familien einkommensabhängig gestalten, Steuernischen abschaffen und die strengen Zulassungsregelungen für Taxifahrer, Apotheker und Notare flexibilisieren. Attali schlägt außerdem vor, das Personal im öffentlichen Dienst radikal zu reduzieren und Beamte externen Erfolgskontrollen zu unterwerfen. Der Eintritt in das Rentenalter soll flexibilisiert werden. Außerdem propagiert Attali eine pragmatische Einwanderungspolitik: Die Vergabe von Aufenthaltsgenehmigungen solle schneller und unbürokratischer gehen, wenn es einen Bedarf an Arbeitskräften gibt.

Auf Regierungsseite hat sich bereits Innenministerin Michèle Alliot-Marie von dem Vorschlag distanziert, die Départements abzuschaffen: „Ich bin dagegen.“ Auf Oppositionsseite hat PS-Chef François Hollande erklärt, dass ihm „zahlreiche Vorschläge“ Sorgen machen – unter anderem die anvisierte Anhebung der Mehrwertsteuer.

Die Gewerkschaft CGT lobt die Vorschläge, mehr Fortbildung in berufliche Lebensläufe in Frankreich und mehr Demokratie in das betriebliche Geschehen hineinzubringen – und kritisiert, dass Attali die Arbeitszeitregelungen sprengen will. Eine Liberalisierung der Arbeitszeit schaffe nicht die erwünschte Vollbeschäftigung. Außerdem, meint die CGT, ignoriere Attali „weitgehend die tatsächlichen Handicaps unserer Wirtschaft“. Diese reichten von einer „echten“ Industriepolitik bis hin zu den Schwächen des französischen Banksystems. DOROTHEA HAHN