Kenia zerfällt in seine Stämme

Als Staat kann Kenia nur gerettet werden, wenn nicht mehr alle Macht beim Präsidenten konzentriert wird. Alle Ethnien müssen sich an der Korruption beteiligen können

Die Konkurrenz der Stämme um die politische Macht verdeckt die tiefe Spaltung zwischen Arm und Reich Kenia wird selbst herausfinden, wie man aus 42 Stämmen eine funktionierende Gemeinschaft formt

Kofi Annan ist nach Kenia gereist, um zwischen Regierung und Opposition zu vermitteln. Aber tatsächlich muss er zwischen Stämmen schlichten. Denn Kenia gibt es seit einem Monat nicht mehr. Das Land zerfällt in seine Ethnien.

Inzwischen ist die Zahl der offiziellen Todesopfer auf weit über 700 gestiegen – und rund 260.000 Menschen mussten fliehen. Vorerst. Denn täglich werden weitere Bauern von jungen „Kriegern“ angegriffen und verjagt, nur weil sie einem anderen Stamm angehören. Als Waffe dienen oft Buschmesser, die in jedem Supermarkt für 1,55 Euro zu haben sind.

Diese Gewalt bricht keineswegs nur spontan aus, weil die Wahlen vom 27. Dezember gefälscht wurden. Inzwischen haben einige der „Krieger“ zugegeben, dass sie Kopfprämien erhalten haben – von ihren Stammesältesten. Ebenso beunruhigend: Diese Taten geschehen nicht anonym, sondern Nachbarn gehen auf Nachbarn los. Viele Opfer berichten, dass sie ihre Angreifer gut kannten und mit deren Familien seit 40 Jahren zusammen gelebt hatten. Offenbar reicht Vertrautheit nicht mehr aus, um ethnische Säuberungen zu verhindern. Auf die Polizei können die Opfer meist nicht rechnen, wie sie bitter erfahren mussten. Statt das Gewaltmonopol des Staats durchzusetzen, ist auch die Polizei vom Stammesdenken durchdrungen und schützt die Angreifer nur, wenn sie zur gleichen Ethnie gehören.

Vertrieben wurden vor allem Angehörige der Kikuyu, zu denen Präsident Mwai Kibaki gehört. Doch verunsichert sind auch alle anderen Stämme, die in den jetzigen Auseinandersetzungen nicht direkt involviert waren. Jeder hat die Botschaft verstanden: Wirklich sicher ist man nur noch in seinem eigenen Stammesgebiet. Potenziell gelten alle Gebiete westlich von Nairobi als gefährlich – das ist ungefähr die Hälfte des Landes. Was für ein Wandel: Noch vor einem Monat schien es selbstverständlich, dass jeder Kenianer überall in Kenia leben kann.

Diese neue Vorsicht erschüttert das bis heute verteidigte ideologische Fundament: Täglich wird den Kenianern eingeschärft, dass sie Kenianer sind und ihre Stammeszugehörigkeit keine Rolle spielt. Diese Botschaft ist im offiziellen Kenia allgegenwärtig; sie prägt die Nationalhymne genauso wie die Fernsehnachrichten. Doch diese offiziellen Ansagen sind nun völlig unglaubwürdig – und damit ist der Versuch gescheitert, Kenia zu einem Nationalstaat nach europäischen Vorbild zu machen.

Allerdings – dieses Modell musste versagen, weil die jeweilige Stammeszugehörigkeit die Identität eines jeden Kenianers tief prägt. Am wichtigsten ist dabei die Sprache: Selbst eng verwandte Stämme wie die Kikuyu und die Meru verstehen sich gegenseitig nicht, obwohl sie direkt nebeneinander auf den Hängen des Mount Kenia siedeln. Hinzu kommen die kulturellen Traditionen: Manche Stämme waren Hirten, andere schon immer Bauern. Manche praktizieren die Beschneidung, andere nicht.

Im Alltag mögen diese Unterschiede früher nicht so wichtig gewesen sein und gern wurde über sie gewitzelt. Aber wenn es um die Wahl des Ehepartners ging oder um eine berufliche Beförderung, dann konnte die Stammeszugehörigkeit plötzlich sehr entscheidend werden.

Vor allem aber hat auch die kenianische Politik – allen Parolen zum Trotz – immer nach Stammeskriterien funktioniert. Jeder Präsident hat zunächst einmal seine Klientel bedient, weswegen bei der letzten Wahl ja so massiv gefälscht wurde: Der Verlust der Macht bedeutet massive materielle Einbußen für die bis dato herrschenden Clans.

Dabei erweist sich als besonders fatal, dass in Kenia alle Macht beim Präsidenten konzentriert ist. Wer also eine Wahl verliert, muss komplett auf alle Pfründen verzichten. Ein Platz auf den Oppositionsbänken ist daher ökonomisch außerordentlich unattraktiv und wird mit allen – auch undemokratischen – Mitteln verhindert.

Diese Omnipotenz des Präsidenten ist keineswegs zwingend, sondern leitet sich ebenfalls von der verfehlten Idee ab, dass Kenia ein Nationalstaat europäischer Prägung zu sein habe: Da die Kenianer angeblich ein Volk sind, wird der Präsident als sein oberster Sachwalter verstanden.

Statt eines Präsidialsystems wäre es bei 42 Stämmen sehr viel angemessener, nicht auf gnadenlose Machtkonzentration zu setzen – sondern auf Konsens. Es müsste sichergestellt werden, dass sich alle Stämme in der Regierung repräsentiert sehen. Böse formuliert: Die grassierende Korruption darf nicht nur einige Ethnien bevorzugen – sie muss allen zugänglich sein.

Der wichtigste Effekt dabei: Sobald die politische Macht unter den Stämmen gerecht verteilt wäre, würde eine heilsame Ernüchterung eintreten. Der Mythos könnte endlich zertrümmert werden, dass der Lebensstandard einer ganzen Ethnie schlagartig steigt, sobald sie die Regierung kontrolliert. Tatsächlich profitiert immer nur ein enger Zirkel von präsidialen Vertrauten. Auch von den Kikuyus, obwohl sie nun schon so lange die Eliten stellen, leben sehr viele im Slum. Doch diese Realität wollen viele Luos bisher nicht wahrhaben, die sich hinter Oppositionsführer Raila Odinga scharen.

Solange die Stämme um die politische Macht konkurrieren, bleibt das eigentliche sozioökonomische Problem verdeckt: In allen Ethnien existiert eine tiefe Spaltung zwischen Arm und Reich. Viele junge Männer haben keine Chance, jemals eine Familie zu unterhalten. Diese Frustration leben sie momentan aus, indem sie als „Krieger“ gegen andere Stämme vorgehen.

Ohne eine tief greifende Verfassungsreform wird Kenia nicht zur Ruhe kommen. Auch Kofi Annan hat bereits verlauten lassen, dass er eine „langfristige Lösung“ anstrebe. Allerdings besitzt Annan keinerlei Druckmittel, um einen Kompromiss zwischen Opposition und Regierung zu erzwingen. Er kann nur seine persönliche moralische Autorität einsetzen.

Wie Annan sind auch die USA oder die EU letztlich machtlos. Zwar wurde schon angedroht, die Hilfsprogramme zu streichen – aber das würde vor allem die Armen treffen. Die Mehrheit der Kenianer und auch die Medien sind bemerkenswert unbesorgt angesichts der Aussicht, dass die westlichen Geldströme versiegen könnten. Denn in den letzten Jahren ist die kenianische Wirtschaft so robust gewachsen, dass sie nun weitgehend unabhängig von ausländischer Unterstützung ist.

Von außen ist Druck nicht möglich, aber er könnte von innen kommen. Die expandierende kenianische Wirtschaft leidet derzeit massiv unter den Unruhen, ob es nun die Teefabriken oder die Hotels sind. Die Eliten schaden sich selbst, wenn sie keine Einigung forcieren.

Der Westen mag es als Kränkung empfinden, nicht mehr den Schiedsrichter spielen zu können. Aber es lässt sich inmitten der Krise auch als eine gute Nachricht sehen, dass die Kenianer nun so autonom sind, selbst herauszufinden, wie man aus 42 Stämmen eine funktionierende Gemeinschaft formt.

ULRIKE HERRMANN

Fotohinweis:Ulrike Herrmann ist Autorin der taz und schreibt meist über Sozial- und Wirtschaftsthemen. Momentan hält sie sich in Kenia auf, wo sie 1980/81 bei einer afrikanischen Familie als Austauschschülerin lebte.