Die ersten Sekunden

Die Kunst, aus dem Urknall ein Universum zu bauen: „Tabula rasa“, ein Schallplattenkonzert von Christian Marclay und Florian Kaufmann im Club Transmediale, glich einer Schöpfungsgeschichte

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Am Ende unseres Gesprächs reiche ich Christian Marclay meine Visitenkarte, auf der ein schlecht stilisierter Schallplattenspieler zu sehen ist. Noch während ich mich dafür entschuldige, fängt Marclay an zu lachen. „Wenn ein Gegenstand zum Logo wird, dann kann man sich sicher sein, dass er endgültig an Bedeutung verloren hat.“ Es liegt ein wenig Wehmut in seiner Stimme. Der Schallplattenspieler und die Schallplatte sind sein Metier. Und so wie ein Bildhauer seine Figuren nicht plötzlich in Buttermasse schlägt, nur weil Marmor nicht mehr à la mode ist, kann auch Marclay das Material nicht wie ein Paar Schuhe wechseln.

Understatement ist noch ein schwaches Wort für den angetäuschten Kleinmut, mit dem Marclay das Ende des Schallplattenspielers konstatiert. Sieht man einmal von der geringen ökonomischen Schlagkraft auf dem Tonträgermarkt ab, dann sind Vinyl und Turntable als künstlerisches Medium heute noch genauso lebendig wie vor 68 Jahren, als John Cage erstmals einen Schallplattenspieler als Musikinstrument forderte. Den Beweis der Aktualität des Vinyls blieb Marclay jedenfalls nicht schuldig. Im Rahmen des Clubs Transmediale präsentierte er am Dienstag „Tabula rasa“ – eine Performance, die er gemeinsam mit dem Schweizer „Universalbastler“ Florian Kaufmann entwickelt hat.

Auf der Bühne des Maria im Ostbahnhof stehen drei Plattenspieler, klobige, aber robuste Modelle, die einst für den Schulbedarf gebaut wurden, und eine Schneidemaschine, auf der, was geschieht, live mitgeschnitten wird. Der Anfang des Stückes, Stille und jungfräuliches Vinyl, gleicht einer Initiation. Die ersten Geräusche, die Marclay den noch leeren Plattenspielern austreibt, werden zu Ersten Geräuschen in einem fast schon metaphysischen Sinne. Nadelschleifen, Schlagen, Schalterklacken. Alles, was folgt, ist die kunstvolle Administration dieses musikalischen Urknalls. Die von Kaufmann live geschnittenen Vinylplatten landen nach und nach auf den Plattenspielern, wo Marclay sie erneut bearbeitet.

Ihrem Ursprung nach sind Marclays Arbeiten immer selbstreferenziell. Als er Ende der Siebzigerjahre den Schallplattenspieler als Musikinstrument entdeckte und damit den Habitus und das Selbstverständnis des DJs vorwegnahm, wurde Form zum Inhalt, der Tonträger zum Ton – kurz: das Medium zur Botschaft. „Früher war die Schallplatte ein Objekt, das man mit Zärtlichkeit, Liebe und Fürsorge umhegte“, historisiert Marclay die Bedeutung des Vinylobjekts. „Als ich in den Achtzigerjahren Schallplatten erstmals auf der Bühne zerbrach, sind die Menschen regelrecht zusammengezuckt.“

Wer Marclays ältere Arbeiten kennt, die humorvollen Collagen und die süffigen Loops, mochte angesichts der eher spröden Performance am Dienstag etwas enttäuscht sein. Viel hängt von den ersten Sekunden des Stückes ab, wenn die Ersten Geräusche ins Erste Vinyl geschnitten werden, weil diese Geräusche ja von Platte zu Platte weitergegeben werden. Und da sich Marclay für einen eher rüden und groben Gestus entschied, bekamen die Hörer es mit einem entsprechend ruppigen Stück Musik zu tun – dynamisch sprunghaft und ohne jeden Fluss. Dass „Tabula rasa“ auch unwirtliche Musik möglich macht, ist natürlich Teil des Konzepts: die Form ist offen, der Aufbau experimentell. Schließlich steht in diesem Jahr auch „unpredictable“ als Motto über dem Programm des Clubs Transmediale, um auf experimentelle und dem Ausgang nach offene Arbeiten hinzuweisen.

Der Dienstagabend wurde der Idee des „Unvorhersehbaren“ auch noch anders gerecht. Flankiert wurde „Tabula rasa“ unter anderem vom niederländischen Duo Optical Machines. Optical Machines arbeiten mit Lichtsensoren, die kreisende Objekte abtasten und in Klang verwandeln. Rotierende Stifte und Maschendrahttürme generieren Patterns, die in eine psychedelische Videoprojektion und in einen ratternden Rhythmus übersetzt werden: Musik aus dem Physikbaukasten mit vielen schönen Farben und hohem Unterhaltungswert. Zum Schluss dann Xavier van Wersch, der den Abend mit weichen Analogsounds und schmatzenden Filtern, als Mad Scientist in einen Laborkittel gehüllt, zu einem versöhnlich groovenden Ende brachte.