die taz vor 15 jahren über die lichterketten und den 60. jahrestag von hitlers „machtergreifung“
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Wie bequem ist es doch, Franzose zu sein! Und wie schwierig ist es, Deutscher zu sein! Während der Monate, in denen die rassistische Gewalt das Gesicht des noch frisch vereinten Deutschlands verändert hatte, hielten die Franzosen ihren so verlegenen Nachbarn immer wieder die Demonstration von Carpentras als Lehrbeispiel entgegen. Nachdem im südfranzösischen Städtchen ein jüdischer Friedhof geschändet worden war, demonstrierten in Paris 200.000 Menschen, der Staatspräsident an der Spitze. Weshalb kamen denn diese Deutschen ihrer elementaren Pflicht des zivilen Protestes nicht nach?

In Berlin, München, Frankfurt gingen nun Hunderttausende auf die Straße, eine Kerze in der Hand. Beunruhigt fragt sich die deutsche Presse, ob diese Symbolik der Erinnerung an den 60. Jahrestag von Hitlers Machtergreifung denn wirklich angemessen ist. Sie zieht die unglückliche Analogie zur Tradition der Fackelzüge der Nazis. Sie fragt sich, ob diese Kundgebungen letztlich nicht doch steril sind. Gewiß, die Demonstrationen kamen ein bißchen spät. Aber diese beachtliche Mobilisierung der deutschen Zivilgesellschaft, diese alten und diese sehr jungen Leute, diese Familienmütter, die jeden Tag auf der Straße zu sehen sind, zeugen von einem Mut einflößenden Bewußtseinsprozeß. Bleibt die Frage: Welchen Einfluß werden diese Massendemonstrationen auf die Bonner Politik wirklich haben? Denn es ist ja die politische Klasse, die ihrer Verantwortung nicht nachgekommen ist. Das Bonner Establishment hat versagt. Das archaische ius sanguinis, wonach Deutscher ist, wer deutsche Eltern oder auch nur entfernte deutsche Vorfahren hat, gilt weiterhin. Deutschland ist keine Integrationsgesellschaft. Dieses Versagen der politischen Klasse Deutschlands ist bei weitem besorgniserregender als die im Ausland so begierig aufgenommenen Bilder von einer bevorstehenden Rückkehr des Dritten Reiches.

Pascale Hugues, „Libération“- Korrespondentin, taz 1. 2. 1993