Die traurige Ballade vom Arbeitshaus

Als arbeitsscheu stigmatisiert, verfolgt und umgebracht: Eine Ausstellung im „Haus der Demokratie“ erinnert an die Verfolgung von Wohnungslosen im Nationalsozialismus. Spuren der Ausgrenzung findet man auch an der Rummelsburger Bucht, wo Heimkinder und Bettler interniert waren

„Wo ein Arbeitshaus ist, ist ein Gefängnis, ist ein Zuchthaus und ein Friedhof. Dann ist die Kindheit zu Ende“, singt Bruno S.

VON JESSICA ZELLER

Die Gedenkveranstaltung sieht nach einem normalen Gruppenspaziergang am Wochenende aus. Dreißig Menschen haben sich am S-Bahnhof Rummelsburg versammelt und laufen gemeinsam an der Spree in Richtung „Wasserstadt“, wie die im Zuge der Expo 2000 entstandenen neuen Gebäude an der Rummelsburger Bucht viel versprechend genannt werden. Ihr Ziel ist das „letzte Filetstück“ der Gegend, das erst im vergangenen Jahr an die Investorengruppe „Berlin Campus“ verkauft wurde: das ehemalige „Städtische Arbeitshaus Rummelsburg“. Wie in der Nachbarschaft sollen auch in den insgesamt neunzehn Backsteinhäusern luxuriöse Eigentumswohnungen entstehen, diesmal allerdings nicht als Neubau, sondern im Anschluss an die aufwendige Rekonstruktion und Instandsetzung „nach dem historischen Vorbild“.

Dieses Versprechen der Makler auf den Werbeplakaten an den Fassaden kann einem durchaus Bauchschmerzen bereiten. Denn der Gebäudekomplex von 1877 hat eine wechselhafte Geschichte. Vor allem Ostberlinern ist er als ehemaliges DDR-Gefängnis noch ein Begriff. Doch bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik dienten die Häuser als Gefängnis und „Besserungsanstalt“ für rund 1.000 Bettler, Landstreicher, Waisen- und Heimkinder und Prostituierte. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden sie dann zum „Städtischen Arbeits- und Bewahrungshaus Berlin-Lichtenberg“ umgebaut. Zu den bekannten Insassen kamen noch Sonderabteilungen für Homosexuelle und „psychisch Abwegige“ hinzu. Wie viele Menschen genau in Rummelsburg gefangen gehalten und in den anliegenden IG-Farben-Fabriken Zwangsarbeit leisten mussten, ist bis heute nicht erforscht. Auch nicht, wer später in Konzentrationslager „verlegt“ wurde oder an Ort und Stelle umkam.

„Wir sind heute hier, um an die Opfer der Aktion ‚Arbeitsscheu Reich‘ zu erinnern. Am 26. Januar 1938 erließ Heinrich Himmler auf dem Höhepunkt der ‚Asozialenverfolgung‘ einen Erlass, in dessen Folge zwischen 10.000 und 20.000 Menschen in Konzentrationslager verschleppt wurden“, begrüßt Lothar Ehrenfeld vom „Arbeitskreis „Marginalisierte – gestern und heute!“ die Besucher auf der Baustelle. Der Historiker Thomas Irmer geht von etwa 70.000 Opfern, die mit dem „schwarzen Winkel“ gezeichnet wurden, bis 1945 aus.

Im Anschluss an die Redebeiträge singt Bruno S. von der Geschichte des Gebäudes und seinen eigenen Erfahrungen. Der heute 76-jährige Straßenmusiker, der 1975 die Rolle des „Kaspar Hauser“ unter der Regie von Werner Herzog spielte, kam bereits im Alter von drei Jahren nach Rummelsburg und hat die Anstalt überlebt: „Wo ein Arbeitshaus ist, ist ein Gefängnis, ist ein Zuchthaus und ein Friedhof. Dann ist die Kindheit zu Ende“, heißt es in einer Strophe seiner selbst komponierten eindringlichen Lieder.

Die Besichtigung der Anlage in Rummelsburg, die man sicherlich auch ebenso gut auf eigene Faust unternehmen kann, ist eine von insgesamt mehr als zwanzig Begleitveranstaltungen, die der Arbeitskreis aus Philosophen, Pädagogen, Erwerbslosen und Gedenk- und Erinnerungsarbeitern bis Juni geplant hat. Im „Haus der Demokratie“ ist außerdem bis zum 24. Februar die Ausstellung „Wohnungslose im Nationalsozialismus“ zu sehen, die im Mai ins Bezirksmuseum Lichtenberg weiterzieht. Hier wird auf Wandtafeln über politisch-ideologische Hintergründe, Einzelschicksale und historische Vorläufer der Verfolgung informiert.

„Uns ist aufgefallen, dass über die Behandlung von Wohnungslosen im Nationalsozialismus eigentlich niemand Bescheid weiß. Die Opfer haben nie finanzielle Entschädigung erhalten und viele der damaligen Vorurteile sind bei großen Teilen der Bevölkerung noch immer präsent“, sagt Mitorganisatorin Anne Allex. Man wolle deshalb nicht nur erinnern, sondern auch den „Anfängen wehren“, sagt sie und kann dazu auf kürzlich auf der Straße ermordete Wohnungslose verweisen und die abfälligen Äußerungen von Politikern über sogenannte Sozialschmarotzer zitieren.

Tatsächlich geht die Betonung von Kontinuitäten zwischen 1938 und 2008 bei den geplanten Veranstaltungen sehr weit. So soll in einem Rundumschlag erst über NS-Gesundheitspolitik, dann über neoliberale Sicherheitspolitik und Hartz IV und schließlich über die Struktur von Lohnarbeit im Allgemeinen diskutiert werden. Im Zweifel hätte die Auseinandersetzung mit dem großteils unbekannten Geschehen von damals jedoch zum Nachdenken genügt.

„Arbeitsscheu“ im Haus der Demokratie, Greifswalder Straße 4, Mo.–Fr. 10– 17 Uhr, bis 24. Februar Nächste Veranstaltungen zu Obdach- und Wohnungslosen in der DDR am 12.+15. 2., 19.30 Uhr im Mehringhof Aktuelle Informationen über die Veranstaltungsreihe unter www.marginalisierte.de