„Bin doch kein Reh“

Die Natur als Zeuge der Unbehaustheit in der Welt: Die Brecht-Tage 2008 galten „Brechts Ästhetik der Natur“

Die jährlich stattfindenden Brecht-Tage im Literaturforum des Berliner Brechthauses waren um eine Themenwahl eigentlich nie verlegen. Die Welt wird wieder fromm? Warum nicht von Brechts Glauben (2002) sprechen. Oder vom Film, das geht immer – Brecht plus minus Film (2003). Mit 9/11 ist auch der Krieg eine neue Realität: also Brecht und der Krieg (2004). Brecht und der Sport passten 2005, ein Jahr vor der Fußballweltmeisterschaft.

Und dieses Jahr? Noch wie war so viel Klima wie heute. Machen wir also Brecht und die Natur, genauer „Das Angesicht der Erde – Brechts Ästhetik der Natur“.

Keine Angst, Brecht wird nicht der neue Guru der Ökobewegung. Auch bei ihm finden sich keine fertigen Antworten auf die Krise des Planeten. War auch nicht zu erwarten beim „Urbanisten“, wie ihn Walter Benjamin nannte. Für den war Brecht der erste bedeutende deutsche Lyriker, „der vom städtischen Menschen etwas zu sagen hatte“. Huldigungsgesänge auf die Schönheit von Flora und Fauna sind vom Augsburger nicht zu haben. „Auf den ersten Blick ist Brecht niemand, den man als Naturlyriker bezeichnen würde“, räumte Sebastian Kleinschmidt ein, der das Konzept für die diesjährige Brecht-Konferenz erstellt hat.

Als Max Frisch Brecht nach einem gemeinsamen Essen aufforderte, sich im Wald die Füße zu vertreten, soll dieser geantwortet haben: „Was soll ich denn im Wald? Ich bin doch kein Reh!“ Brechts Verhältnis zur Natur war ein gebrochenes, vermitteltes. Selbst ein Gedicht wie „Vom Schwimmen in Seen“ aus Brechts früher „Hauspostille“ ist nicht einfühlende Anschauung der Natur, sondern beschreibt vielmehr die lustvolle Auflösung eines „man“ in derselben. Natur ist hier positiv besetzt – in polemischer Blasphemie gegen die Kleinbürgerlichkeit des „Naturerlebnisses“. Und angerissen ist hier zugleich die Abschaffung des „Individuums“ – ein großes Thema der 20er-Jahre, nicht nur für Brecht.

Wie etwa auch Benn ging Brecht davon aus, dass man es bei der Natur mit Plagiaten zu tun hat. Natur ist, wie Ursula Heukenkamp aus Berlin im Eröffnungsvortrag ausbreitete, für Brecht niemals Selbstzweck, sondern nützlich oder unnütz für das Schreiben, aber nicht einfach „schön“. „Gefühl“ war ihm zuwider, stattdessen verschrieb er sich der Verwirrung der Gefühle. Dazu brauchte er Distanz, Ironisierung. Die „Hauspostille“, Brechts berühmteste Gedicht-Sammlung, knüpft polemisch an die Tradition erbaulicher Postillen-Lyrik an. Ein kohärentes Bild von „Natur“ liefert uns der frühe Brecht nicht, meist erscheint sie abweisend, kalt (wie in „Von der Freundlichkeit der Welt“) oder zersetzend, auflösend. Oder als Komplize von Verbrechen, wie im Gedicht „Von der Willfährigkeit der Natur“.

Doch Satire erschöpfe sich, so Heukenkamp. Ironische Polemik ersetzt Brecht ab Mitte der 20er-Jahre mehr und mehr durch neusachliche Kälte. Im Bewusstsein, noch stärker als zuvor auf „Surrogate“ angewiesen zu sein (wie Benn es später nennen wird), schafft Brecht die Reste von „Naturerlebnis“ ab. Natur wird, vor allem im Drama, fortan zum Feind, gegen den es zu kämpfen gilt, den es zu besiegen gilt. Und zwar mithilfe der Apparate – so lange, bis „unsere Technik natürlich ist, bis wir selber natürlich sind“, ist Brechts dialektische Volte, die ihn in die Reihen der Fortschrittsideologen einrückt und zugleich anschlussfähig hält für eine moderne Ökobewegung.

Aber die späten „Buckower Elegien“ – scheint in ihnen nicht noch mal eine mögliche Utopie der Versöhnung von Mensch und Natur auf? Buckow als letzte Ausfahrt? Werner Hecht, altgedienter Brecht-Forscher, insistierte darauf, dass es bei Brecht durchaus unmittelbare Erfahrungen der Schönheit von Natur zu finden gibt. Auch Gerd Irrlitz, Philosoph, sah da, wo der späte Brecht das indeterministische Spielverhalten, also das Schöpferische der Natur entdeckt, eine Chance, Brechts Naturverständnis auf die Höhe unserer Zeit zu bringen.

Bei genauerer Betrachtung gerade auch der „Buckower Elegien“ kommt man nicht an dem Gedanken vorbei, dass „Natur“ für Brecht eigentlich eher Kontrastmittel denn wirklicher Gegenstand ist. Nicht sie ist Anlass zu schreiben, sondern die sozialen Verwerfungen des „Zeitalters der Extreme“ (Hobsbawm). Im Gedicht „Der Taifun“, entstanden auf der Flucht vor den Nazis, ist von der Natur eher Schonung zu erhoffen als von den Menschen. Der dichterische Gang in die Natur ist so gesehen dazu da, Distanz zu erzeugen, Verfremdung zu ermöglichen. Zugleich ist die immer vermittelte, unechte „Natur“ oft Zeuge, ja auch Komplize der Unbehaustheit in der Welt.

Von Natur reden heißt auch, sich immer der Gefahr bewusst zu werden, dass da Unvermitteltes mitgeschleppt wird. Auch die Ökologiedebatte der Gegenwart hat einen solchen blinden Passagier an Bord, die „Luis-Trenker- Natur“ (Irrlitz), also die unverwundete, heile Natur. Brecht zu lesen macht auf eine angenehme Art immun gegen einen heimlichen Virenbefall. Zu einer ökologisch runderneuerten Naturlyrik führt uns der Augsburger nicht. Brecht: „In der Wildnis oder in der Natur scheint man nur vom Geld zu träumen.“

STEFAN MAHLKE