: Das große Gefühl der Einsamkeit
Die Kälte bringt ihre eigene Ästhetik hervor: sich auf weniges konzentrieren, Überflüssiges weglassen. Das zeigen eine Filmreihe im Arsenal und eine Ausstellung der Deutschen Guggenheim, die den Künstlern in Schnee und Eis folgen
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Es war immer sehr spät in der Nacht, wenn diese Bilder mich vor dem Fernseher festgehalten haben. Bilder von Schnee und Eis, grobkörnig, schwarzweiß. Die Nacht draußen und das Verebben aller Geräusche haben sich untrennbar verwoben mit dem großen Gefühl der Einsamkeit, das diese Filme transportieren. Sie kommen wie Boten aus einer anderen Zeit, Abgesandte längst Verstorbener, deren Bilder in die Gegenwart durchdringen, wenn die Welt für einige Zeit den Atem anhält. „Nanook of the North“, den berühmten Dokumentarfilm, für den Robert Flaherty 1920 mehrere Monate bei den Inuit in Kanada verbracht hatte, habe ich als eine solche Passage in ein anderes Leben in Erinnerung und „Herrn Arnes Schatz“, einen wunderschönen Stummfilm von Mauritz Stiller nach einer Erzählung von Selma Lagerlöf.
Zuletzt war es der Film „South – Sir Ernest Shackelton’s Glorious Epic of the Antarctic“, der mit so eindringlichen Bildern alles andere beiseite fegte: Nicht zuletzt durch das Wissen, dass Frank Hurley, der Kameramann, ja einer der Teilnehmer der Expedition Shackeltons in die Antarktis gewesen war, die 1914 begann und sich dann, nach dem Sinken des Schiffs, über 18 Monate hinzog. Hurleys Film ist ein Tagebuch von einem Überlebenskampf. Schon dass das alte Filmmaterial alle Zumutungen der Kälte, des Salzwassers, von wochenlangen Reisen in offenen Beibooten und monatelangem Ausharren an kargen Stränden überhaupt ausgehalten hat, grenzt an ein Wunder. Die Filmbilder erzählen nicht nur von den extremen Situationen; sondern ihr Entstehen scheint selbst Beweis der Fähigkeit, nicht den Mut zu verlieren und dies überstehen zu wollen.
Alle drei Filme gehören, mit einer Klavierbegleitung live, zu der Filmreihe „True North“, die heute Abend im Kino Arsenal beginnt. Dabei sind auch neuere Filme, wie Ang Lees „Der Eissturm“ (1997) und Thomas Imbachs „Lenz“ (2006).
Die Kälte bringt ihre eigene Ästhetik hervor, eine Herausforderung zur Konzentration auf weniges, ein Verbot alles Überflüssigen. Die Filmreihe ergänzt eine Ausstellung in der Deutschen Guggenheim von sieben Fotografen und Videokünstlern, die sich noch einmal auf die Suche nach dem Erhabenen begeben haben, das zuerst in der Romantik als Schauer vor dem Unendlichen kultiviert wurde. Es ist kein Zufall, dass die romantischen Kunstformen das Zeitalter der Entdecker und kolonialen Besetzungen begleiteten und die Suche nach ästhetischen Grenzüberschreitungen von dem Wissen der realen Ausdehnung der bekannten Welt getrieben wurde. Darauf nimmt zum Beispiel Stan Douglas Bezug, wenn er in der Videoinstallation „Nu-tka-“ dem Verlauf der Küste Westkanadas folgt. Auch bei ihm hört man von der Not der Entdecker und den Entbehrungen der Siedler, während die Landschaft vor den Augen des Betrachters zu zerfallen scheint, wie ein gewebtes Bild, aus dem nach und nach die Fäden wieder rausgezogen werden.
Olafur Eliasson, der oft den Eingriffen des Menschen in die Natur folgt, ist mit den 42 Bildern der „The glacier series“ (1999) vertreten. Aus dem Flugzeug sieht man die Giganten, man weiß nicht, wo; aber man weiß, dass diese talwärts strömenden Eis- und Geröllhalden, die den Romantikern in ihrer zerstörerischen Wucht noch das Unfassbare offenbarten, jetzt selbst zum traurigen Zeugnis der zerstörerischen Kräfte des Menschen geworden sind. Sie schmelzen ab, ebenso wie die Polkappen, und das verändert den Blick in die mächtigen Gipfel und die eisigen Wüsten.
„True North“ im Arsenal, eröffnet heute um 20 Uhr mit einem arktischen Kurzfilmprogramm, bis 29. Februar. „True North“, Deutsche Guggenheim, täglich 10–20 Uhr, bis 13. April
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