Schnullerenglisch bringt nichts

Kinder sollen heute früh etwas lernen. Das tun sie von ganz allein, sagen Wissenschaftler. Vorausgesetzt, Eltern machen ihre „Hausaufgaben“

VON JANET WEISHART

Kieselsteine sind für Emma das Größte. Die Zweijährige sammelt sie, rennt zur Rutsche, schmeißt alle aufs Blech. Das scheppert. Emma gluckst. Ihre Mama Anna Hefner* steht daneben und sagt: „Für Emma gibt es nichts Schöneres.“ Und trotzdem denkt die Freiberuflerin aus Nürnberg: „Meine Tochter soll den Anschluss nicht verpassen und Englisch lernen.“ Schnullerenglisch ist in. Deutschlandweit lernen beim Sprach-Marktführer Helen Doron derzeit 23.000 Kinder sowie Babys, und jedes Jahr verdoppeln sich die Schülerzahlen. Gemäß dem Motto „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ etabliert sich ein privater Bildungsmarkt. Nach Pisa- Schock, Hartz IV und Unterschichtendebatte rüsten Eltern ihre Kinder für die Zukunft. Kommunikationstraining bei FasTracKids oder „Baby da Vinci“-Videos – alles wird gebucht oder gekauft. Wenn es nur nützt.

Aber lernen Kleinkinder so richtig? „Nein. Bildungsprogramme machen vor dem vollendeten vierten Lebensjahr keinen Sinn. Sie überfordern die Kleinen“, sagt Lernforscherin Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin. „Erst danach können Kinder Dinge lernen, die über ihren unmittelbaren Erfahrungshorizont hinausgehen. Und auch dann nur spielerisch.“ Pauken langweilt Kinder. Ludger Koopmann, Leiter der Frühförderstelle für entwicklungsauffällige und behinderte Kinder in Herne, stimmt zu. Er kritisiert übereifrige Eltern: „Statt zu berücksichtigen, was das Kind gern vertiefen möchte, wird ihm etwas angeboten, von dem Eltern überzeugt sind.“ Und er tadelt selbst ernannte Lernexperten, die das Wort „Frühförderung“ missbrauchen: „Eltern wird suggeriert, dass ihrem Kind etwas fehlt, wenn sie bestimmte Angebote nicht früh genug wahrnehmen.“

Klar, 77 Prozent aller Eltern wollen ihre Kinder laut einer Forsa-Umfrage fördern. Sie würden dafür sogar auf andere Ausgaben verzichten. Doch Lernen heißt für Kleinkinder laut Stern „erdenklich viele Gegenstände und Handlungen kennenzulernen“. Kinder erfassen die Welt nicht fachsystematisch-abstrakt, sondern spielerisch-experimentell: mit Tee panschen, Töpfe stapeln, Gras zupfen. Der Direktor des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg, Henning Scheich, erklärt die dabei beteiligten Gehirnvorgänge an einem Beispiel: „Ein Baby überprüft einfache Formen wie einen Ball immer wieder durch das Scharfstellen der Augen. Bei der Überprüfung werden die richtigen Synapsen im Gehirn verbunden und verstärkt. Denn: Das Gehirn eines Neugeborenen ist auf Verdacht angelegt und enthält nur zufällige, meist sinnlose Synapsenverbindungen. Schielt ein Baby, bekommt es also nicht die Möglichkeit, einfache Formen richtig zu sehen. Wird der Fehler nicht behoben, bleibt die Fehlverbindung in den Synapsen bestehen. Diese Logik gilt für alle Mustererfahrungen.“ Auf Erfahrungen baut späteres Wissen viel leichter auf. Dass die Kleinen ständig in Bewegung sind, ist zusätzlich von Vorteil fürs Lernen.

Kinder sind von Natur aus neugierig. „Interessiert sich das Kind für eine Sache, ist es dauerhaft motiviert, sich damit zu beschäftigen. Gelerntes Wissen verankert sich gut, weil das Kind emotional beteiligt ist, Spaß hat“, weiß Koopmann. Das soziale Umfeld gibt Rückmeldungen über Lernerfolge und reflektiert kindliches Wissen im Gespräch. Eltern müssen eine Lernkultur schaffen oder, wie die Lernpsychologin Stern es salopp sagt: „sich Zeit nehmen, gut beobachten, genau zuhören!“

Trotzdem sind Mütter wie Anna Hefner verunsichert: „Es gibt doch Zeitfenster, in denen das kindliche Gehirn Fähigkeiten besonders gut erlernt. Die sollte man doch nicht verpassen.“ Lernforscherin Stern nimmt Eltern die Panik: „Auch später lernen Kinder noch gut. Irreversible geistige Defizite entstehen nicht!“ Es schadet aber auch nicht, jene „sensitiven Phasen“ zu nutzen. Hirnforscher Scheich erklärt: „Bis zu einem Alter von vier Monaten gibt es die höchste Synapsendichte für visuelle und akustische Reize.“ Bis drei Jahre existiert der Synapsenbildungsgipfel für kognitive Prozesse, bis zu vier Jahren für die Motorik. Von drei bis zehn Jahren für Musik. Ab etwa zwei Jahren für das Begreifen für Buchstaben oder Zahlen.

Gerade jene letzte Phase liegt Scheich am Herzen. Er rät den Eltern, sozusagen als „Hausaufgabe“, das Lesezentrum ihrer Kinder zu unterstützen. „Das Lesezentrum reift in einem Alter heran, in dem sich Kinder mit kleinsten Dingen, wie etwa Ameisen, beschäftigen. Buchstaben und Zahlen besitzen ähnlich kleine Muster. Da Kindern in unserer künstlichen Welt dieses Naturtraining jedoch fehlt, sollten sie spielerisch mit Zahlen und Buchstaben umgehen – ein A vom B unterscheiden lernen, Zahlen malen oder Tierbeine zählen.“

Stern ermahnt Eltern zum Vorlesen, was laut einer Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach nur 58 Prozent regelmäßig tun: „Dabei sind Bücher oder Bilderbücher ungeheurer Treibstoff für die kognitive Entwicklung. Kleinkinder lernen besonders gut, wenn Erwachsene alles mit Worten begleiten.“ Ab drei, vier Jahren begünstigen dann Reime und Gedichte die Sprachbildung, Basteln und Malen schulen Feinmotorik und Kreativität, Lieder und Rhythmen das musikalische Verständnis. Auch von Experimenten wie etwa mit Licht und Schatten oder Magneten lernen Kinder im Vorschulalter viel. Erfolg macht sie glücklich – ein Grund, warum Kinder alles erforschen.

Und Emma? „Eine Fremdsprache bekommen Kinder nur geschenkt, wenn sie mit zwei Sprachen aufwachsen. Ein zweisprachiger Kindergarten ist keine Garantie für den Spracherwerb“, sagt Stern. „Und einmal die Woche Englisch bringt rein gar nichts“, resümiert Scheich.

*Name geändert