Eine Ärztin entdeckt das Kranksein

Mit Mitte 50 muss Adelheid Lüchtrath ihr Leben ändern: Sie hat starke Schmerzen in den Gelenken, eine rheumatische Erkrankung wird diagnostiziert. Doch es dauert lange, bis die Ärztin akzeptieren kann, dass sie fortan auch eine Patientin ist

„Mein Mann, Freunde, auch Fremde haben mir vermittelt, dass sie mich trotz Krankheit lieben und schätzen“

VON ULRIKE HEMPEL

Adelheid Lüchtrath ist eine Frau von kleiner Statur, mit hellen Augen, einem weichgeschnittenen Mund und feinem aschblondem Haar. Sie wirkt zerbrechlich. Erst wenn sich ihre Hände flink hin und her bewegen und ihrer dunklen Stimme dadurch noch mehr Raum verschaffen, fällt auf, dass sie über sehr viel Kraft und Vitalität verfügt. In Lüchtrath begegnet man einem Menschen, der für sich ein Maß gefunden hat, um mit einer schweren Krankheit leben zu können. Die 55-Jährige hat es geschafft, eine chronische rheumatische Erkrankung in ihr Leben zu integrieren; eine Krankheit, die vor allem die Wirbelgelenke befällt und von starken Schmerzschüben gekennzeichnet ist. Die die Gelenke verknöchern lässt und die Wirbelsäule nach und nach versteift.

Noch vor wenigen Jahren hätte sich Lüchtrath nicht vorstellen können, dass sie ihren gewohnten Alltag komplett umkrempeln würde – und nach 35 Jahren mit dem exzessiven Rauchen aufhört, sich vegetarisch ernährt, zweimal täglich chinesische Kräuter zu sich nimmt, einmal wöchentlich zur Akupunktur, zur Warmwasser- und Krankengymnastik sowie zur Psychotherapie geht. Doch im Sommer 2006 bekommt sie von einer Rheumatologin eine schreckliche Diagnose mitgeteilt: dringender Verdacht auf undifferenzierte Spondylarthropathie – eine ererbte entzündlich-rheumatische Erkrankung ähnlich der Bechterew-Krankheit.

Aber Lüchtrath ist nicht nur Patientin, sondern vor allem auch Ärztin. Als Allgemeinmedizinerin hat sie seit 1997 eine privatärztliche Praxis in der Genter Straße. Dank ihrer mehrjährigen Facharztausbildung ist sie eingeweiht in die Klinikabläufe, die Sprache der Experten und die ungeschriebenen Gesetze des Medizinbetriebs. Ihre schulmedizinische Kompetenz hat sie mit einer Ausbildung in Naturheilverfahren erweitert, unter anderem in Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) und Akupunktur. „Wenn ich Alternativmedizin mache“, sagt sie, „dann muss ich sehr genau wissen, was die Schulmedizin ist, sonst ist es keine Alternative.“

Als Medizinerin steht Lüchtrath mit ihrer eigenen Erkrankung plötzlich vor einem gewaltigen Problem: der Wechsel vom Arzt- zum Patientsein. Gewohnt, Kranken als Ärztin zur Seite zu stehen, brachte sie es trotz heftiger gesundheitlicher Probleme wochenlang nicht fertig, zum Arzt zu gehen. „Das Schwerste für mich war, eine Kollegin um Hilfe zu bitten“, gibt Lüchtrath zu. Eine Berufskrankheit: Viele kranke Ärzte schämen sich oder wollen vor einem Kollegen nicht die Aura der Perfektion verlieren. Andere tun so, als hätten sie mit der Approbation auch das Anrecht auf ewige Gesundheit erlangt.

„Defizite zeigen gehört nicht zum Selbstbild des Arztes“, fasst Iris Hauth, ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Klinik für Suchtmedizin im St.-Joseph-Krankenhaus Weißensee, das Problem zusammen. Der hohe ärztliche Anspruch, man müsse vor allem anderen helfen und dafür notgedrungen immer stark sein, bringe mit sich, dass man auf keinen Fall in der Ecke der vermeintlichen Verlierer und Schwachen stehen wolle. Deshalb sei die Hemmschwelle bei Ärzten so groß, im Fall einer Erkrankung um Hilfe zu bitten.

Lüchtrath selbst begründet ihr Zögern, zum Arzt zu gehen, mit ihrer Erziehung und der Vorstellung, die einen kranken Arzt prinzipiell ausschließt: „Mein Vater ist Pathologe. Krankheit gab es bei uns zu Hause nicht. Ich bin als Kind drei Wochen mit einem gebrochenen Arm rumgelaufen. ‚Stell dich nicht so an!‘, hat er damals gesagt.“

Der Moment, in dem sich ihr Arztsein um die konkrete Krankheitserfahrung erweiterte, führte Lüchtrath zunächst in eine furchtbare Krise: „Bis zu einem Punkt, wo ich nicht mehr konnte, habe ich die Diagnostik selbst betrieben. Das ist mir grottenschlecht bekommen.“ Sie sei wie ein müder, hilfloser und ausgebrannter Alkoholiker gewesen, der erst ganz unten landen muss, bevor er versucht, sich zu berappeln. Bei ihr war das der komplette seelische und körperliche Zusammenbruch: nur noch Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen. Sie konnte sich in der Badewanne nicht mal mehr allein hinsetzen, weil Hand- und Schultergelenke versagten. Und auf keinen Fall, erinnert sie sich, wollte sie ihrem Mann zur Last fallen, obwohl er sich rührend und gern um sie kümmerte. Auch das ist ein bekanntes Phänomen bei schwerkranken Ärzten: Sie belasten sich mit extremen Sorgen, Ängsten und Schuldgefühlen gegenüber der Familie.

Lüchtrath brauchte Wochen, um sich auch als Patientin fühlen zu können. Das gelingt ihr erst, als sie sich entscheidet, ihr Leben von nun an mit der Krankheit zu denken. Erst als Lüchtrath bereit ist, sich einer anderen Ärztin anzuvertrauen, kann sie zu einer Patienten werden, die vor allem in ihrem Kranksein und Leiden wahrgenommen wird: „Ich war heilfroh, als ich das dann abgeben konnte.“ Das Reden wird zur Befreiung und fällt ihr immer leichter: über die Nächte, in denen sie vor Schmerzen nicht schlafen kann, über die völlige Erschöpfung und gleichzeitig das Gefühl der Überdrehtheit. Sie merkt, dass die Bedrohung der Krankheit und die Ängste vor der Zukunft kleiner werden, umso häufiger sie von alldem spricht. Die Rolle der Patientin hat jetzt etwas mit Adelheid Lüchtrath zu tun, wird vertraut: „Ich habe sogar weinend meine Hausverwalterin angerufen und gesagt, wie furchtbar schlecht es mir geht.“

Noch heute treten ihr Tränen in die Augen, wenn sie an all die Menschen denkt, die ihr geholfen haben und immer noch helfen. Zum Beispiel ihre Spanischlehrerin, die zu ihr nach Hause kam, um ihr stundenlang den Nacken zu massieren. „Mein Mann, Freunde, aber auch Fremde haben mir vermittelt, dass sie mich trotz meiner Krankheit lieben und schätzen.“ Ohne diese zwischenmenschliche Zuwendung und Unterstützung wäre sie nicht so entschieden in den Kampf um Gesundung getreten, sagt sie. Lüchtrath, die als Kind nie jammern und in ihrem Beruf nie die Haltung verlieren durfte, lernte, dass ihre rheumatische Krankheit nicht Schwäche, Verlust und Ausgrenzung bedeuten.

Der Perspektivwechsel von der Ärztin zur Patientin brachte Lüchtrath anfangs auch in Situationen, die jeder Kassenpatient zwar kennt, ihr selbst aber bislang unbekannt waren. So bat sie zu Beginn vorigen Jahres bei einer Spezialistin um einen Termin. Am Telefon wurde ihr zur Untersuchung ein Tag im Dezember genannt. „Das kann nicht sein, ich bin jetzt krank“, sagte Lüchtrath verständnislos. Sie fragte, ob sie eher drankäme, wenn sie die Untersuchung privat bezahlen würde. Sie ist Kassenpatientin. Nein, war die Antwort, das spiele bei der Terminvergabe überhaupt keine Rolle. Erst als Lüchtrath erklärte, sie sei selbst Ärztin und kenne die Spezialistin noch von früher, fand sich eine Lösung: Man gab ihr einen Termin im August.

Auch in Angelegenheiten der Therapie half ihr weiter, dass sie Ärztin ist. Ein Rheumatologe wollte sie ursprünglich auf ein Medikament einstellen, das zwar zu den wichtigen Basismedikamenten bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen zählt, aber auch enorme Nebenwirkungen hat. Sie lehnte diese Behandlung ab und entschied sich für die Einnahme einer Arznei, deren Nebenwirkungen weitaus geringer sind. Und sie verringerte die Dosis so schnell wie möglich und nimmt heute nur so viel, „damit es nicht knirscht“.

Lüchtrath begreift die Symptome ihrer Krankheit nicht nur als Alarmsignale einzelner Teile des Körpers, sondern als Hinweise auf ein Ungleichgewicht des ganzen Organismus. Ziel der Behandlung muss es deshalb sein, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen. Lüchtrath hat für sich eine Vereinbarkeit ihres schulmedizinisches Wissens mit ihren Erfahrungen aus der Naturheilkunde gefunden.

Dass ihr Konzept aufgeht, zeigt der letzte Kliniktermin. Da meinte ein junger Rheumatologe, sie sei einer der wenigen Fälle einer Spontanheilung. Im Blut gebe es nichts mehr, was darauf hinweist, dass Lüchtrath einen Rheumaschub hatte. „Aber so kann nur ein Schulmediziner denken“, sagt Lüchtrath. „Aus meiner Sicht kann von ‚spontan‘ überhaupt keine Rede sein“, fügt sie mit dem Wissen um ihren täglichen Kampf gegen die Krankheit hinzu.

Seitdem sie selbst Patientin ist, hat sie sich auch als Ärztin verändert. Ihre Beratung für Schmerzpatienten ist anders geworden, sagt Lüchtrath. Sie kann heute viel besser Schmerzzustände besser beurteilen. Auch in der Klinik gehörte sie nie zu den Drei-Minuten-Medizinern – und versuchte trotz des großen Drucks, sich für die Kranken Zeit zu nehmen und zuzuhören. Heute bittet sie ihre Patienten aber ganz direkt, über ihre Schmerzzustände und ihre Ängste zu sprechen. Denn eine zugewandte Ärztin und ein vertrauensvoller Patient, sagt sie, „können im Gespräch einen Weg finden, wie man auch mit einer schweren oder chronischen Krankheit leben kann“.