Dieser elende Paparazzi-Instinkt

Poststelle (4): Was passiert, wenn zwei Schriftsteller einen Briefwechsel beginnen? Henning Ahrens schlägt die Formel „Wer die Klappe am weitesten aufreißt, schreibt die lausigsten Texte“ vor. Jochen Missfeldt führt dagegen den mongolischen deutschen Schriftsteller Galsan Tschinag ins Feld

HENNING AHRENS, Jahrgang 1964, lebt als Schriftsteller und literarischer Übersetzer in Handorf bei Peine, Niedersachsen. 2001 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. Sein letzter Roman „Tiertage“ erschien 2007.

Lieber Jochen Missfeldt,

Ihre Gleichung „Guter Autor = biographisch uninteressant“, „Schlechter Autor = biographisch interessant“ klingt sehr einleuchtend (obwohl ich leider Gottes eine hochinteressante Biographie habe). Meine Faustregel, die auf der jahrelangen Mitarbeit in einer Literaturwerkstatt basiert, lautet: „Wer die Klappe am weitesten aufreißt, schreibt die lausigsten Texte.“ Aber vielleicht sind Gleichung und Faustregel ja gar nicht so weit voneinander entfernt, denn in beiden Fällen versuchen sich Leute jenseits ihrer literarischen Erzeugnisse interessant zu machen, aufzublasen oder den Anschein des Exotischen zu geben, um Leser und Kritiker zu blenden; was immer wieder verblüffend gut klappt und höchst betrübliche Rückschlüsse auf das Urteilsvermögen jener zwei Gruppen erlaubt.

Paparazzi-Instinkt

Sie schreiben, dass „hinter dem, was künstlerisch misslungen ist, oft interessante Biographien stecken und umgekehrt hinter dem Gelungenen wir schlechte Zeugnisse von nervtötenden Unsympathen finden“. Ja. Und nein. Denn was hat die Biographie mit dem Schreiben zu tun? Woher kommt er, dieser elende Paparazzi-Instinkt, der viel zu viele Leute in Texten nach dem Leben des Autors / der Autorin schnüffeln lässt und dieses in jedem noch so banalen Detail zu erkennen glaubt? Warum liest man literarische Texte nicht als das, was sie sind – als Fiktion? Warum liest man Romane, als wären es fünfhundertseitige Sondernummern von Gala oder dem Goldenen Blatt?

Diese seltsame Schlüsselloch-Lesart geht – und das ist das eigentlich Frappierende an der Sache – über die Inhalte glatt hinweg. Gut möglich, dass man sich als Autor der eigenen Biographie bedient, aber man tut es ja, um Inhalte zu transportieren, zu analysieren oder zu beleuchten, und dabei verwandelt man den Stoff, den man benutzt.

Was der Autor sagt

Jeder Student der Literaturwissenschaft lernt gleich zu Beginn, dass man das, was irgendwelche Protagonisten sagen, tun oder denken nicht mit dem gleichsetzen darf, was der Autor sagt, tut oder denkt. Und doch wird dies mit einer – um Sie noch einmal zu zitieren – wahrhaft nervtötenden Beharrlichkeit und zugunsten einer ungeheuer naiven Lesart ignoriert. Was im Grunde bedeutet, dass man umsonst schreibt; denn man verfasst ja keine Romane, um das eigene und, wie Sie richtig sagen, oft uninteressante Leben zur Schau zu stellen, sondern weil einen Inhalte umtreiben, mit denen man sich literarisch auseinandersetzt.

Donna Leon

Ach, das ist schon sehr ernüchternd. Und natürlich etwas pauschal. Würde man in den Romanen Donna Leons oder Henning Mankells nach dem Leben der Verfasser schürfen? Wohl eher nicht, was erstens daran liegt, dass es sich um Krimis handelt, und zweitens daran, dass man weder Donna Leon noch Henning Mankell unterstellen würde, Mörder oder Polizisten zu sein, nur weil sie über Morde und deren Aufklärung schreiben. Das Genre Krimi ist zu weit vom Leben seiner Autoren entfernt, was natürlich auch für Fantasy und Science-Fiction gilt. Autoren genrefreier Romane dagegen sehen sich oft mit der nervigen biographischen Lesart konfrontiert.

Zu guter Letzt: Der misslungene und der gelungene Roman. Meiner Meinung nach kommt es nicht auf Perfektion an (die sowieso fast unerreichbar ist), sondern darauf, ob etwas gewagt wird oder nicht. Es gibt zu viele laue, flaue Romane, und in genau diesen wird oft Autobiographisches verwurstet, damit die Sache „authentischer“ wirkt, doch „Authentizität“ ist kein literarisches Kriterium; echte Literatur beginnt dort, wo der Stoff geformt und verwandelt wird. Oder was meinen Sie?

Mit herzlichem Gruß,Ihr HENNING AHRENS

Lieber Henning Ahrens,

JOCHEN MISSFELDT, Jahrgang 1941, lebt in Oeversee bei Flensburg. Sein jüngster Roman „Steilküste“ erschien 2005. 2006 erhielt er den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein.

vielen Dank für Ihren letzten Brief! Wie Sie richtig gemerkt haben, ist mein Formelkram natürlich rhetorischer Blödsinn. Formeln und Faustregeln in der Literatur – immer dasselbe: Sie halten nicht, was sie versprechen, beziehungsweise ein „Gleich“ oder „Ungleich“ führt zu Ergebnissen, die hingebogen werden müssen, damit die Formel stimmt.

Ihre Faustregel „Wer die Klappe am weitesten aufreißt, schreibt die lausigsten Texte“, ist eine schöne Behauptung, ich hege nur grundsätzliche Zweifel, als sei Ihr Richtsatz ein Stück von mir. An der Offiziersschule der Luftwaffe schrieb mal ein Major und studierter Diplompädagoge mit Kreide folgende Gleichung an die Wandtafel: Friede = Krieg x 0. Da kann man gut weiter rechnen: Friede dividiert durch Krieg gleich Null und Friede dividiert durch Null? Das geht nicht. Wer in der Literatur an Formeln glaubt, ist selber schuld. Bei angelegten Fesseln erweist sich Literatur immer wieder als tolle Entfesslungskünstlerin. Daher bezieht sie (auch) ihre Schönheit, ihre Spannung und Kraft; immer wieder ist sie für Überraschungen gut, und alles bewirkt sie nur mit den Wörtern.

Die Doppelspur

Sie meinen, als Schriftsteller bediene man sich zwar der eigenen Biographie, sie habe aber dennoch nichts mit dem Schreiben zu tun? Ein Schriftsteller ohne Biographie kann nicht schreiben. Wieder so eine Formel, diese stimmt aber! Sie besagt, Person und Werk eines Schriftstellers bilden eine untrennbare Einheit, auch dann, wenn wir das Werk als reine Fiktion definieren. Selbstverständlich muss man Dichtung auch aus sich selbst verstehen. Das sollen die Studenten auf den Seminaren von ihren Professoren lernen; sie sollen aber nicht lernen, die Biographie des Dichters zu vergessen. Den Weg zum Werkverständnis geht man besten auf der Doppelspur des Werkes und der Biographie.

Ich verstehe gut Ihre Besorgnis über den Lesart-Schindluder von Texten: Schnüffeln nach biographischen Trüffeln, Spurensuche mit Basic Instinct. Die Schriftsteller können das nicht ändern, sie sollen sich davon nicht irritieren und vom eigenen Weg abbringen lassen. Ruhig und gelassen sollen sie auf dem eigenen Trampelpfad weiter trampeln – jeder Tag ist gefragt, Krankheit und sonstiger Unbill ist zu trotzen – sie sollen an ihren Wörtern festhalten und das Beste daraus machen: gute Literatur. Das kann man uns Schriftstellern, die gern nach links und rechts, oben und unten schielen, nicht oft genug vorbeten.

Schamane Goethe

Kennen Sie Galsan Tschinag? Er bezeichnet sich selber als „deutscher Schriftsteller“. Dreiundsechzig Jahre alt, geboren in der Mongolei, Sohn einer tuwinischen Schamanin. Ich lernte ihn vor ein paar Jahren im Wendland kennen, im Künstlerdorf Schreyahn. Tschinag studierte von 1962 bis 1968 in Leipzig Germanistik, blieb danach nicht im Westen, ging wieder zurück als Deutsch-Lehrer an die Universität von Ulan Bator. Jetzt ist er Stammesführer und Schamane – Goethe ist für ihn einer der größten deutschen Schamanen – und lebt die meiste Zeit mit großem Familienanhang in seiner Heimat. Immer wieder geht er auf Lese- und Vortragstour nach Deutschland. Seine Bücher erscheinen in deutschen Verlagen, er schreibt auf Deutsch, er schreibt über sich, seinen Stamm und sein Land.

Das Dichterwunder

„Hätten Sie Lust, für die taz in einen Briefwechsel zu treten?“, haben wir die Autoren Jochen Missfeldt und Henning Ahrens gefragt. „Als Kollegen sozusagen, und sich austauschen über die Bedingungen, Schwierigkeiten und Freuden des Lebens als Schriftsteller?“ Sie hatten. Was sie verbindet: Jochen Missfeldt und Henning Ahrens haben sich beide sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa umgetan, beide leben im Norden – und dort auf dem Land. Was sie trennt: Eine Generation. Wie nah ihre Vorstellungen und Erfahrungen vom Leben als Schreibende im Übrigen sind, erfahren Sie in dem Briefwechsel der beiden, der seit Silvester 2007 in loser Folge an dieser Stelle erscheint. TAZ

Aber was für ein Deutsch schreibt dieser Dichter! Ein Deutsch voller Poesie und Zugkraft, es ist so wenig abgenutzt beziehungsweise gar nicht abgenutzt, sondern auf eine seltsame Weise neu und reich, irritierend auch, so schön steht’s noch nirgendwo geschrieben, finde ich. Und ich frage mich, wie macht dieser freundliche Mann aus dem fernen Osten das? Denkt er Deutsch und empfindet er Deutsch, um so zu schreiben, wie er schreibt, oder denkt und empfindet er in seiner Muttersprache und „übersetzt“ dann ins Deutsche? Ich kann mir dieses Dichterwunder nur so erklären: Er empfindet mit seinem poetischen Mongolenkopf und denkt dabei auf Deutsch, er entwickelt seine Poesie nach den Gesetzen der deutschen Sprache, erlaubt sich ein paar poetische und grammatische Freiheiten und schreibt alles auf. Das könnte eine Erklärung sein; aber das Dichterwunder erklärt sich damit noch nicht.

Übrigens erscheint demnächst seine Autobiographie. Oder ist sie etwa schon erschienen? Die werde ich natürlich lesen, weil ich mir davon erhoffe, ein wenig mehr zu verstehen von dem Dichterwunder Galsan Tschinag und seiner Poesie.

Herzliche Grüße Ihres

JOCHEN MISSFELDT