streikwege
: Vom Wedding bis fast nach Kreuzberg

So beginnen Horrorwege: kaum die Haustür raus und schon geblendet. Die Wintersonne kommt direkt von vorn und macht Leute, deren Augen nicht perfekt sind, fast blind. Der Weg vom Afrikanischen Viertel im Wedding immer südwärts zur Kochstraße wird ebenfalls zur Strafe. Das Licht hat Folterqualität. Sofort rinnen mir die Tränen über die Wangen – Sonnenbrille und Schildkappe, die Schatten spendet, zum Trotz.

Unter normalen Umständen würde ich das Fahrrad jetzt in den Hof zurückschieben und die U-Bahn nehmen, Linie 6 – eine Nord-Süd-Ader der Stadt. Nun jedoch muss ich mich halbblind zur Müllerstraße vorkämpfen. Das war so versprochen. Tu dir keinen Zwang an, war das Motto. Der Streikweg sollte hart sein. Sehr hart.

Nichts ist schlimmer als die schnellste Verbindung nach Mitte, kommt doch nach der Müller- die Chaussee- und nach der Chaussee- die Friedrichstraße – und alle sind eng. Nicht per se eng im Sinne von Enge, aber eng, wenn es um die Verkehrs-Convenience geht. Denn Parken in zweiter Reihe ist auf der Müllerstraße mehr Tugend als Not. So war’s dann auch heute.

Der Streik kreiert seine eigene Logik. Sie kommt wie ein Dominospiel aus Kausalsätzen daher. Kippt ein Stein um, fallen auch die anderen: Weil die BVGler streiken, fahren viele mit dem Auto. Weil ich kein Auto habe, nehme ich das Fahrrad. Weil ich geblendet bin, fahre ich langsam. Weil die rechte Spur auf dem Nordberliner Boulevard steht, wähle ich die linke. Weil ich gesehen werden will, nehm ich mir Raum. Weil die Autos hinter mir Rücksicht nehmen müssen, hupen sie. Weil das keinen Spaß macht, breche ich das Experiment am Leopoldplatz ab. Ohnehin sieht man schon von Weitem das nächste Hindernis: eine Baustelle.

Es macht keinen Sinn, sein Leben zu riskieren.

Parallel zur direkten Nord-Süd-Verbindung von der Müller- zur Friedrichstraße gibt es fahrradfreundlichere Wege. Selbst auf denen liegen jedoch die Nerven blank. Zu viele Leute, die sonst in Berlin nie Auto fahren, sind unterwegs. Nimmt denen jemand die Vorfahrt, sehen sie nur noch rot. Auf der Tegeler Straße ist das so. Und später an der Fennbrücke auch. Da allerdings schaut einer nur nach links, um einzufädeln, und sieht mich rechts von sich nicht. Über die Brücke indes muss man, um endlich am Ufer des Hohenzollernkanals ruhig nach Süden zu kommen. Wer aber versperrt da plötzlich den Weg? Ein Rudel Freizeitwalkerinnen mit Stöcken.

Spätestens da merke ich, dass es auch in mir streikt. Ich bemühe mich nicht länger um diese Kolumne, suche nicht nach einem Punkt, der den Text hebt. Ich ignoriere Wortrhythmik, pfeife auf Sprachmelodie. Nur vorwärts will ich, die Luisenstraße entlang, da wird schon heftig gehupt. Dann kommt die Wilhelmstraße, auf der es nicht minder hoch hergeht. Erst an der Englischen Botschaft ist 50 Meter lang Ruh’. An der Ampel zur Behrenstraße dahinter spucke ich endlich auf den Boden, rotze den Dreck raus und sehe, dass andere dies schon vor mir getan haben. WALTRAUD SCHWAB