Vom Ende einer bewegten Form

Der Gardinen-Hersteller Ado hat sich mit seiner Goldkante ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Nun streicht die Firma mit Sitz im Emsland 140 Stellen. Das verwundert nicht, denn: Gardinen sind out. Was schade ist – der Niedergang der Gardinen bedeutet nämlich einen Sieg der Starre

von Maximilian Probst

HB-Männchen, Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer, Clementine, Mein Bac, Dein Bac – und eben die Ado Goldkante. Wer in den 1970ern als Kind vor dem Fernseher saß, hat die Werbeblöcke rund um Väter der Klamotte, Wickie, Biene Maja und den großen Preis sicher nicht vergessen. Die namenlosen Werbedamen, die zwischen Resopalschrankwänden die edelmetallveredelten Fensterverhüller anpriesen, sind vergessen, die Ado-Goldkante Werbeikone ist geblieben. Mit diesem Markenzeichen hat es das Unternehmen vor 35 Jahren geschafft, zum Inbegriff für Gardinen zu mutieren. Dass man dieses Wort im Deutschen überhaupt noch verwendet und nicht einfach sagt: „Du hast da aber eine schöne Goldkante hängen“, ist wahrscheinlich nichts weiter als eine glückliche Fügung.

Ado ist, nach eigenen Angaben, auch heute noch der größte Gardinenhersteller der Welt. Bei jüngeren Leuten, bei denen, die gerade zum ersten Mal eine eigene Wohnung einrichten, wird der Name allerdings nur noch Kopfschütteln auslösen: nie gehört. Dass jetzt das Unternehmen angekündigt hat, von seinen weltweit 1.400 Beschäftigten jeden Zehnten zu entlassen, kann deshalb nicht weiter verwundern. Gardinen sind ganz einfach out.

Wieso aber? Um diese Frage zu beantworten, muss man zurückgehen in die Postwirtschaftswunderjahre, in jene Jahre, als sich an der Gardine zum ersten Mal die Geister schieden.

Die ältere Generation schätzte sie, nicht ohne Grund: Die Gardine schützte Mama und Papa vor den Unbillen der Zeit der sozialliberalen Koalition, dimmte die Unruhen von Flower-Power und RAF-Terror auf ein erträgliches Maß herunter. Den revoltierenden Studenten hingegen erschienen die Grauschleier regelrecht als materialisierte Ideologie: verbargen sie nicht denselben Muff von tausend Jahren wie an der Uni die Talaren? Und waren es nicht Gardinen, die man zuzog, als zur Zeit des Dritten Reichs die Nachbarn deportiert wurden? Also runter mit ihnen! Und wie sonst hätte man auch den Anspruch einlösen können, dass das Private politisch sei, also potenziell alle etwas angehe? Die Gardine hat sich von diesem Gewaltstreich nie richtig erholt. Noch immer gilt sie vielen als ein augenfälliges Symptom bürgerlicher Spießigkeit.

Das ist bedauerlich. Tatsächlich ist die Gardine ja weit mehr als nur die Scheidewand zwischen Öffentlichem und Privaten. Sie erschöpft sich keineswegs in ihrer Funktion, zu verbergen, ja sie kommt erst dann zu ihrer wahren Geltung, wenn sie diese Funktion gar nicht erfüllt. Gerechtfertigt ist die Gardine nämlich als ästhetisches Phänomen. Im Idealfall rahmt die Gardine das Fenster in Form eines umgekehrten Kelchs, ähnlich dem Kelch des Hemds, der den Hals kleidet. Und faltenbildend sollte sie wie die Schleppe eines Kleides auf den Boden fallen. Sommers, bei geöffnetem Fenstern, kündet die Gardine, sich bauschend, oder mit den Holzringen auf der Stange klappernd, vom kleinsten Windhauch. Und wenn es draußen weht, beginnt sie, quer durchs Zimmer zu flattern. Am schönsten freilich ist, wenn sie, bei Durchzug, aus dem Zimmer weht, und nun, nicht mehr abweisend, sondern einladend, die Passanten auf der Straße winkend grüßt. Kurz gesagt: die Gardine ist bewegte, bewegende Form.

Ihr Niedergang wäre demnach ein Sieg der Starre. Und in der Tat: meistens wird die Gardine von Rollläden oder elektrischen Schiebevorrichtungen ersetzt. Als Qualitätsmerkmal gilt dabei: je leiser, desto besser. Übrig bleiben soll eben nur die Funktion. Die moderne Architektur hat diesen Trend gefördert. Bei Neubauten sind die Fenster manchmal so breit, dass man Unmengen von Stoff zur Seite schieben müsste und die aufgezogene Gardine schließlich wie ein aufgerollter Teppich neben dem Fenster lehnte. Oder die Fenster sind so klein und quadratisch, dass es eine Schande wäre, mit einer Gardine auf sie aufmerksam zu machen.

So muss man sich wohl an den Gedanken gewöhnen, dass die Gardine über kurz oder lang auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt wird. Bis dahin sollte man jedoch nachsichtig mit diesem Modernisierungsverlierern umgehen und ab und an ihrer besseren Tage gedenken. Als Goldkanten etwa nicht nur älteren Menschen ein Begriff war.