: Deutschland schröpft Normalverdiener
Durchschnittsverdiener bittet der deutsche Staat im internationalen Vergleich überdurchschnittlich stark zur Kasse
BERLIN taz ■ Alleinstehende Durchschnittsverdiener werden in Deutschland überproportional zur Kasse gebeten: Ihre Steuern und Sozialabgaben betrugen 52,2 Prozent der Arbeitskosten, die sich aus dem Bruttogehalt und den Sozialbeiträgen der Arbeitgeber zusammensetzen. Nur in Belgien und in Ungarn liegt die Belastung noch höher, wie sich aus Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für das Jahr 2007 ergibt, die am Dienstag vorgestellt wurden. Der Durchschnitt in den Industrieländern liegt hingegen für Alleinstehende bei nur 37,7 Prozent.
Für verheiratete Alleinverdiener mit zwei Kindern sieht es in Deutschland etwas besser aus: Bei ihnen betragen Steuern und Abgaben 36,4 Prozent ihrer Arbeitskosten. Aber auch dieser Wert liegt über dem OECD-Durchschnitt, der für verheiratete Alleinverdiener 27,3 Prozent beträgt. Trotz dieser starken Belastung der Durchschnittsverdiener sind die Gesamteinnahmen des deutschen Staates aus Steuern und Sozialbeiträgen aber eher gering: Sie lagen 2006 nur bei 35,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – und damit unter dem OECD-Schnitt.
Wie kann das sein, dass die Durchschnittsverdiener überproportional herangezogen werden – und der deutsche Staat dennoch weniger einnimmt als andere OECD-Länder? Die Erklärung: Die oberen Einkommensklassen tragen in Deutschland recht wenig zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben bei. Die Last der Steuern und Abgaben wird vor allem auf die Gering- und Durchschnittsverdiener abgewälzt. „So nimmt, anders als es das progressive Steuersystem vermuten lässt, die Gesamtbelastung ab einem bestimmten Einkommen sogar wieder ab“, konstatiert die OECD. Denn in Deutschland gilt eine Beitragsbemessungsgrenze, die für die gesetzlichen Krankenkassen momentan 3.600 Euro beträgt. Wer monatlich mehr verdient, muss dafür keine Abgaben mehr zahlen. Umgekehrt wird der volle Satz der Sozialbeiträge aber bereits ab einem Monatseinkommen von 800 Euro fällig.
Zudem haben nur die oberen Einkommen von den rot-grünen Steuerreformen profitiert, wie die OECD feststellt. „Gut verdienende Singles haben deutlich geringere Abzüge als noch im Jahr 2000.“ Die Abgabenlast für die Gering- und Durchschnittsverdiener habe sich jedoch kaum verändert. Ursprünglich wurden sie zwar auch um 2 Prozentpunkte entlastet, doch dieser Effekt ist längst wieder aufgezehrt worden durch die „kalte Progression“. Durch die nominalen Lohnerhöhungen steigt der Grenzsteuersatz für die normalen Angestellten automatisch – obwohl ihre reale Kaufkraft nicht zugenommen hat, wenn man die Inflation berücksichtigt.
Auffällig: Kein Land belastet Alleinerziehende mit einem geringen Einkommen so stark wie der deutsche Staat. Im OECD-Durchschnitt müssen sie 80 Prozent weniger an Abgaben zahlen als in Deutschland. Um Kinderarmut zu vermeiden, erhalten Alleinerziehenden in vielen Ländern massive Unterstützung.
Überhaupt bemühen sich viele Staaten, gerade ihre Geringverdiener zu entlasten. So fallen für einen Arbeitnehmer mit halbem Durchschnittslohn in Frankreich nur noch 30 Prozent der Arbeitskosten als Steuer- und Sozialabgaben an – in Deutschland sind es 45 Prozent.
Nur eine einzige deutsche Maßnahme findet die Zustimmung der OECD: Die gesenkten Beiträge zur Arbeitslosenversicherung haben 2007 die Belastung für die Durchschnittsverdiener immerhin ein wenig reduziert – um 1,1 Prozentpunkte.
ULRIKE HERRMANN
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