Friedensheld zwischen den Fronten: KOMMENTAR VON SASCHA ZASTIRAL
Tenzin Gyatso, dem 14. Dalai Lama, ist etwas Bemerkenswertes gelungen: Er hat aus dem Exil heraus eine der eindrucksvollsten Unabhängigkeitsbewegungen unserer Zeit geschaffen. Das Bild des friedfertigen tibetischen Volks, das von den Chinesen unterdrückt wird und dem die kulturelle Auslöschung droht, hat er in der ganzen Welt geprägt.
Vor allem deswegen löst die Welle der gewalttätigen Übergriffe auf Chinesen und das In-Brand-Stecken chinesischer Geschäfte durch Tibeter ungläubige Überraschung aus, zumal manche der Aufnahmen Mönche dabei zeigen, wie sie Schaufenster eintreten. Dabei ist die Geschichte Tibets von Gewalt geprägt. Das Bild von friedlichen, in sich gekehrten buddhistischen Mönchen ist Teil der einzigartigen PR-Leistung der tibetischen Exilregierung. In Wirklichkeit zerfällt der tibetische Klerus in mehrere Sekten, die sich bis ins 20. Jahrhundert teilweise blutig bekriegt haben. Erst im Exil kehrte unter den tibetischen Buddhisten Frieden ein.
Spricht man mit Exiltibetern in Indien, erzählen viele von ihnen, die Friedensbotschaften des Dalai Lama entsprängen vor allem politischem Pragmatismus. Alle anderen Formen von Widerstand hätten gegen die chinesische Übermacht schlichtweg keine Chance. Doch das ist sicher nur ein Teil der Wahrheit. Als der Dalai Lama vor 49 Jahren aus seiner Heimat floh, konnte er mit anschauen, wie die Chinesen einen Aufstand gegen die Besatzung äußerst brutal niederschlugen. Dieser Eindruck scheint Tenzin Gyatso geprägt zu haben wie nichts anderes. Seine Botschaft von Versöhnung, Friedfertigkeit und Dialog, wie er sie in etlichen seiner Bücher ausführt, ist daher glaubwürdig.
Doch die Frustration und Wut seiner Landsleute gegen die jahrzehntelange Unterdrückung hat den Dalai Lama nun in eine Krise gestürzt. Nimmt er die Demonstranten trotz ihrer Gewalttätigkeiten in Schutz, riskiert er, vor der Weltöffentlichkeit an Glaubwürdigkeit einzubüßen. Doch das muss er riskieren. Schließlich sind sie es, die seit Jahrzehnten die Gängeleien, Repressionen und die schleichende Zerstörung ihrer Kultur durch die chinesischen Besatzer ertragen müssen.
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