Die ganz harten Geschichten

Thomas Heise ist einer der großen Historiografen deutscher Familiengeschichten. In „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ besucht er noch einmal Halle und die Menschen, deren Leben er schon für „Neustadt“ und „Stau“ gefilmt hatte

Familien sind Zufallsmengen, die Schicksal spielen. Das wird selten so deutlich wie in den Beobachtungen von Thomas Heise, der nun schon seinen dritten Film über Menschen in Halle-Neustadt in Sachsen-Anhalt fertiggestellt hat. „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ berichtet von einer Familie, durch die mehrere Bruchlinien gehen – eine ideologische, eine soziale, und vielleicht auch eine historische.

Jeanette steht im Zentrum. Zu Beginn sitzt sie vor der Kamera, und erzählt von ihren beiden Söhnen. Tommy und Paule. Tommy ist schon ein Junge, er ist frech, die Mutter fühlt sich ihm nicht mehr ganz gewachsen, dabei ist er gerade erst ins Schulalter gekommen. Paule ist noch ganz klein, „bei ihm ist es noch zu retten“, sagt Jeanette, „den krieg ich auf alle Fälle hin.“

Diese Szenen stammen aus den Neunzigerjahren, als Thomas Heise Material für den Film „Neustadt“ gedreht hat. Nun sieht er nach, was aus Jeanette, Tommy und Paule geworden ist, und aus den Angehörigen, die zum Teil schon seit „Stau“ aus den frühen Neunzigern bekannt sind. Jeanette hat noch einmal ein Kind bekommen, das Mädchen Annabelle. Sie sind nun eine richtige Familie, ein Vater, eine Mutter, der Sohn Paule (aus einer früheren Beziehung), die kleine Tochter. Nur Tommy, der inzwischen ein Teenager ist, lebt nicht mehr bei der Mutter. Sie haben sich überworfen, der Kontakt ist abgebrochen, der junge Mann hat viele Probleme. Er muss einen Antrag formulieren, um eine Verlängerung des Schulbesuchs genehmigt zu bekommen. Er hat schon zu viel vermasselt, aus Faulheit, wie er sagt.

Jeanettes Vater Heinz, ein Fan der Beat-Band The Lords, arbeitet in der Raffinerie des französischen Multis Total. Der jüngste Sohn Tino ist ebenfalls noch ein Teenager, er ist damit eigentlich der Onkel von Tommy, in Wirklichkeit aber sein Kumpel. Tino lebt bei den Eltern, aber er spricht kaum mit ihnen. Jedenfalls nicht über das, was ihn wirklich bewegt. Sein Nationalsozialismus (das Wort zerlegt er in seine beiden Bestandteile, als würde daraus eine legitime Weltanschauung entstehen) ist zu Hause tabu. Tino sagt, er verspüre in sich einen „Urhass“. „Den kann ich nicht löschen, den kann ich nur kleinhalten.“ Türken sind für ihn „eine Rasse, die ich nicht leiden kann“. Tino ist ein Rechter, in seinem Jugendzimmer stemmt er Gewichte, an der Wand hängt ein Poster von Bruce Lee und das Pin-up einer Frau, die einen Autobus lenkt. Jeanette ist seine Schwester, sie sind durch Welten getrennt und gehören doch zur gleichen Familie.

Als Thomas Heise 1992 „Stau – Jetzt geht’s los“ herausbrachte, fraß der Rechtsradikalismus als Thema die Rezeption des Films mehr oder weniger auf. Erst allmählich, in dem Maß, in dem sich aus dem inzwischen enormen Werk dieses großen deutschen Historiografen verschiedene Familiengeschichten herauskristallisiert haben (darunter in Andeutungen auch seine eigene), werden persönliche Entscheidungen und gesellschaftliche Lage deutlicher unterscheidbar. Die ideologische Bruchlinie durch Jeanettes Familie (Normalität eines Erwerbslebens gegen eine vage Kampfbereitschaft, die sich in Ruinen auslebt) ist nicht identisch mit der sozialen (der Schulversager Tommy wird mehr oder weniger ausgestoßen), die Linien verlaufen aber parallel und überschneiden sich mit der historischen Bruchlinie von 1989, die bei Heise auch heute noch im Hintergrund steht und vor allem durch die Figur von Heinz erkennbar wird.

„Kinder. Wie die Zeit vergeht“ hat mit der gleichlautenden, meist gedankenlosen Äußerung nichts zu tun. Es ist ein fast zärtlicher Film über die ungeheure Härte, die in (Familien-)Geschichte steckt. BERT REBHANDEL

„Kinder. Wie die Zeit vergeht“. Regie und Buch: Thomas Heise. D 2008. 90 Min.