Kinderschutz per Postkarte

Zum 1. April führt Schleswig-Holstein verbindliche Kinderarzt-Termine für Kleinkinder ein. Lange scheute Hamburgs CDU das Thema, jetzt verhandelt sie darüber mit den Grünen

An den verbindlichen Vorsorgeuntersuchungen gibt es auch Kritik. So sagt Dethleff Banthien, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Schleswig-Holstein: „Die Form ist nicht mit der freiwilligen Atmosphäre des Arztbesuches vereinbar.“ Vornehmen darf die Untersuchungen jeder Hausarzt. Bei einer Umfrage unter Allgemeinmedizinern im Kreis Rendsburg-Eckernförde sahen sich die meisten Befragten nicht in der Lage, Gefahren für das Kindeswohl früh zu erkennen, sagt Bernd Prezewowsky vom „Netzwerk Frühe Hilfen für Familien“. Und laut Irene Johns, der Landesvorsitzenden des Kinderschutzbundes, liegt mangelnder Kinderschutz ohnehin „nicht in zu wenig staatlicher Kontrolle begründet, sondern in Zeitmangel und fehlender Qualifikation vieler Beteiligter“.  EST

VON KAIJA KUTTER
UND ESTHER GEISSLINGER

In Hamburg ist es ein Dauerbrenner: Fast drei Jahre lang hatte die dortige SPD die zuletzt allein regierende CDU wieder und wieder genervt – mit Anträgen für verbindliche Kinderarzt-Termine. Stets hatte die Union diese Untersuchungen unter Hinweis auf komplizierte Datenschutzprobleme abgelehnt. Schleswig-Holstein macht nun vor, wie es geht: mit einer schlichten Postkarten-Lösung.

Ziel ist es, das Netz des Kinderschutzes dichter zu knüpfen und zu verhindern, dass Kinder gequält oder vernachlässigt werden. „Wir wollen alle Kinder von Anfang an in den Blick bekommen“, sagt Schleswig-Holsteins Sozialministerin Gitte Trauernicht (SPD). 98 Prozent der Eltern nutzten die kostenlosen Untersuchungen schon heute, aber „wir wollen das Augenmerk auf die letzten zwei Prozent richten“. Die Untersuchungen U1 bis U9, für die es Vordrucke in einem gelben Heftlein gibt, ohne das kein Baby eine Geburtsklinik verlässt, werden von den Krankenkassen bezahlt.

Die Untersuchungen U1 bis U3 finden meist nur wenige Tage nach der Geburt statt. Die staatliche Kontrolle beginnt dann mit der U4 im dritten bis vierten Lebensmonat und endet mit der U9 für Fünfjährige. Ab kommenden Dienstag bekommen alle Eltern in Schleswig-Holstein dafür eine schriftliche Einladung vom Landesfamilienbüro in Neumünster. Dem Schreiben liegt eine frankierte Postkarte mit einem Barcode mit Daten des Kindes bei, die die Kinderarzt-Praxis dann an das Familienbüro zurückschickt. Folgt eine Familie der Einladung nicht, erhält sie zunächst eine Mahnung. Nützt das nichts, kommen Mitarbeiter der Jugend- oder Gesundheitsbehörden zu Besuch.

„Das Postverfahren ist das einfachste Mittel“, sagt Ministeriumssprecher Oliver Breuer. „Eine Anschrift sollte ja wohl jedes Kind haben.“ Datenschutzprobleme gebe es nicht. Auch sei es Eltern so möglich, die Karte sogar dann abzuschicken, wenn ihr Kind in einem anderen Bundesland beim Arzt gewesen sein sollte.

Insgesamt sollen jährlich rund 138.000 solcher Elternbriefe verschickt werden. Ministerin Trauernicht rechnet damit, dass die Behörden bei etwa 2.000 Familien Hausbesuche machen müssen. Bei 15 Kreisen und kreisfreien Städten seien dies pro Monat etwa zehn Fälle, rechnet Breuer vor. Da die meisten Betroffenen den Ämtern ohnehin bekannt sein dürften, bedeute die neue Maßnahme „kaum Mehrarbeit für Kommunen“, sagt er. Das Programm, zu dem auch Fortbildungen für Ärzte gehören, kostet insgesamt 1,3 Millionen Euro jährlich.

Das Kieler Beispiel könnte im Norden Schule machen. In Niedersachsen will CDU-Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann „noch in diesem Jahr“ ein verbindliches Einladewesen installieren, wie ihr SprecherThomas Spieker erklärt: „Zur Zeit sind wir mit Ärztekammer und Berufsverbänden darüber im Gespräch.“

Und auch in Hamburg, wo die CDU lange zögerte, werden die verbindlichen Kinderarztermine Anfang nächster Woche „Thema der Schwarz-Grünen Koalitionsverhandlungen sein“, glaubt man der grünen Jugendpolitikerin Christiane Blömeke. Die zuständige Sozialbehörde gibt gegenwärtig keine Stellung ab.

Bereits erprobt wird eine Art „Baby-TÜV“ im Saarland, wo es eine Internetverbindung zwischen Kinderärzten und einer zentralen Stelle an der Uni-Klinik Homburg gibt, die dies mit Daten der Meldeämter abgleicht. Dort wurden in den ersten neun Monaten 70 von 2.600 Familien vom Gesundheitsamt ausgesiebt, die mit ihrem Kind zur U5 gemusst hätten. In sieben Fällen wurde das Jugendamt eingeschaltet.

Dass die Zahl der Betroffenen relativ niedrig ist, stellt für den Hamburger SPD-Politiker Dirk Kienscherf kein Gegenargument dar: „Es geht uns in der Tat darum, die letzten paar Kinder zu erreichen.“ Aus Gesprächen mit dem Kinderschutzbund wisse er, dass in einzelnen Hamburger Quartieren zu 40 Prozent der Kinder den Untersuchungen fernblieben.