„Diese Kröte muss Ver.di schlucken“

Der Tarifexperte Hagen Lesch vermutet hinter der Streikandrohung organisationspolitische Interessen

HAGEN LESCH, 44, ist Leiter für Tarifpolitik und Arbeitskampfforschung im Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

taz: Herr Lesch, Ver.di-Chef Frank Bsirske hat den Schlichterspruch für den öffentlichen Dienst abgelehnt und will Mitte April streiken. Hat er Recht?

Hagen Lesch: Ich weiß gar nicht, was Ver.di will. Eine Vier vor dem Komma ist doch ein sensationeller Erfolg für Herrn Bsirske. Diese symbolische Größe hat Ver.di in allen anderen Dienstleistungssektoren nicht durchbekommen. Und zwar seit Jahren nicht. Oder die Einmalzahlung von 450 Euro: Rechnen Sie das mal auf kleinere Einkommen hoch! Das ist doch auch den Mitgliedern vermittelbar. Die Totalblockade ist nicht aufrechtzuerhalten.

Das Problem ist die Arbeitszeitverlängerung?

Diese Kröte muss Ver.di schlucken, wenn sie solch einen hohen Abschluss will. Und bei der Tarifgemeinschaft der Länder hat Ver.di längeren Arbeitszeiten doch auch zugestimmt. Wo ist also das Problem?

Ver.di argumentiert: Die Arbeitszeitverlängerung sei faktisch eine Lohnkürzung. Der öffentliche Dienst habe bei den Löhnen aber einen großen Nachholbedarf im Vergleich zu anderen Branchen.

Ver.di kann sich als Gewerkschaft doch nicht mit der IG Metall messen. In der Industrie herrschen ganz andere wirtschaftliche Voraussetzungen als in den Dienstleistungssektoren. In der Industrie gibt es durch die höhere Kapitalintensität ganz andere Produktivitätszuwächse. Und wenn sich der öffentliche Dienst wirklich an dem Faktor Produktivität messen lassen will, dann bleibt von Bsirskes Forderung von acht Prozent mehr Lohn nicht mehr viel übrig. Diese binnenwirtschaftlichen Sektoren kann man nicht gleichsetzen mit dem lohnpolitischen Verteilungsspielraum in den Exportindustrien. Diese Tarifrunde hat mit ökonomischer Logik nicht viel zu tun.

Womit dann?

Ver.di verfolgt ein organisationspolitisches Interesse.

Das heißt?

Das Grundproblem bei Ver.di ist die Abspaltung der Berufsgruppen – von Piloten bis Ärzten. Wenn der Marburger Bund für die Ärzte zehn Prozent fordert und vielleicht sechs Prozent durchsetzt, dann sähe Ver.di mit seinen vier Prozent für die Krankenschwestern schlecht aus. Und diese Rivalität unter den Gewerkschaften macht die Tarifpolitik von Ver.di aggressiver. Die 8-Prozent-Forderung für den öffentlichen Dienst ist dann die Folge dieses Hochschaukelns.

Deswegen muss Ver.di jetzt auf Streiks pochen?

Das ist ihre Logik. Schon die Warnstreiks waren an der Grenze zu normalen Streiks. Und Ver.di kommt bei den Verhandlungen im Einzelhandel nicht voran. Da ist der öffentliche Dienst schon die letzte Speerspitze der Gewerkschaft. Es geht also um Machtdemonstration.

INTERVIEW: THILO KNOTT