Tickende Chemiebomben im Badeparadies

In der Neustädter Bucht sollen Munitionsbehälter geborgen werden, in denen möglicherweise Giftgas steckt. Der Fund ist nur die Spitze des Eisbergs: Vor den norddeutschen Küsten rosten rund 400.000 Tonnen Altmunition vor sich hin

Lagert Giftgas in der Neustädter Bucht? Das Kieler Innenministerium will der Sache jetzt auf den Grund gehen. Am 14. April soll eine Lübecker Bergungsfirma einige der insgesamt 15 Flaschen heben, die in dem Meeresbecken lagern. Nach einer Inhaltsanalyse wird entschieden, was mit den restlichen Flaschen geschieht.

Schon 2001 waren vor Pelzerhaken die 15 Behälter mit unbekanntem Inhalt entdeckt worden. Die Kieler Landesregierung ging bislang davon aus, dass dies harmlose Munitionsreste seien. Der Naturschutzbund und die Tourismus-Verbände der Region aber befürchten, das es sich bei den Funden um 15 mit Chlorgas und Phosgen gefüllte Giftgas-Behälter handelt, die 1961 mit amtlicher Genehmigung unweit der aktuellen Fundstelle versenkt wurden.

„Jetzt hilft nur klare Kante, das Zeug muss schnellstmöglich raus“, fordert etwa der Grömitzer Bürgermeister Jörg-Peter Scholz. Nur so könne ein Image-Schaden für die Ostseebäder abgewendet werden. „Der Fall mit den geheimnisvollen Giftflaschen zeigt deutlich: Das Wissen der Behörden ist sehr beschränkt“, ergänzt der Koblenzer Meeresbiologe Stefan Nehring, der die Versenkung der Gasbehälter einst öffentlich gemacht hatte.

Doch die sind ohnehin nur die Spitze des Eisbergs. Eine aktuelle Studie Nehrings kommt zu dem Ergebnis, dass vor den norddeutschen Küsten Hunderttausende Tonnen Altmunition auf Grund liegen. Das Gros der Altlasten stammt aus den beiden Weltkriegen, dazu kommen Munitionsreste von Bundeswehr, NVA, Sowjetarmee und NATO-Truppen.

Nach Nehrings Berechnungen rostet vor der Nordseeküste Niedersachsens ein Waffenarsenal von rund 300.000 Tonnen vor sich hin, während vor der schleswig-holsteinischen Küste weitere 100.000 Tonnen explosiver Altmunition auf dem Meeresboden lagern. „Bis heute haben die Behörden keine Konzepte für den Umgang mit diesem Problem“, kritisiert Nehring. Dabei schlummern hier tickende Zeitbomben. Einer Auflistung des Koblenzer Wissenschaftlers zufolge sind seit Kriegsende vor beiden Küsten insgesamt 283 Menschen bei Munitionsunfällen getötet und weitere 298 verletzt worden. Allerdings liege der bislang letzte bekannt gewordene Unfall bereits 23 Jahre zurück.

Nehring und die Umweltorganisation „Aktionskonferenz Nordsee“ fordern deshalb eine öffentliche Meldepflicht für alle Kampfmittelfunde, Munitionsunfälle und -verluste. Alle möglicherweise belasteten Flächen müssten auf Seekarten eingezeichnet werden.

Zudem kritisieren Nehring und die Aktionskonferenz, dass in Munitionsgebieten noch immer das Fischen und in Phosphor-Problemgebieten das Bernsteinsammeln erlaubt sei. Dies solle zumindest im Ostseebad Laboe an der Kieler Förde, im niedersächsischen Tossens und auf der Insel Usedom (Mecklenburg-Vorpommern) verboten werden. „Bernsteine lassen sich auf den ersten Blick kaum von Phosphorklumpen unterscheiden. Und Phosphor kann schwere Verbrennungen verursachen, da es sich entzündet, sobald es getrocknet ist“, warnt Nehring.

MARCO CARINI