berliner szenen 50 plus

Die Alten und die Toten

Ein Freund hat einen Bekannten, der macht Musik. Ende fünzig, Alleinunterhalter: Keyboard, selbst geschriebene Texte. Kürzlich trat er in Kreuzberg auf. Eines seiner Stücke heißt „50 plus“. Das wollte er auch auf den Flyer schreiben, der an der Kneipe in der Yorckstraße hing. Stattdessen stand „Sex“ darauf. „Sex sells“, meinte der Mann, bei „50 plus“ sei er sich dann doch nicht so sicher gewesen. Das hat er richtig eingeschätzt. Es kam eine Gruppe Männer. Man feierte 25 Jahre Abitur, war an der Kneipe vorbeispaziert, hatte den Flyer gesehen – und mittendrin im Geschehen. Sah den Freund des Freundes auf seinem Keyboard spielen, hörte ihn Lieder singen und wunderte sich.

Der Freund war nicht allein zum Konzert des Alleinunterhalters gekommen. Seine Begleiter waren ein bisschen über 30, sie Schauspielerin und Philosophin, er Chirurg, gerade tätig in der Notfallaufnahme. An der Bar erzählte der Chirurg von der Näherei Nacht für Nacht. Von Stichwunden von Bandenchefs und zerrissenen Körperteilen von Menschen, die aus dem dritten Stock springen. Seine Freundin war genervt. „Stundenlang hat er gearbeitet, das hat unfassbar viel Geld gekostet. Und was macht der Psychoidiot am nächsten Tag? Springt aus dem siebten Stock und ist tot. Das hätte man sich alles sparen können.“ Der Bekannte sang „50 plus“. Es wankte einer der Abi-Männergruppe herbei, murmelte „grauenhaft“ und forderte zum Tanzen auf.

Der Chirurg erzählte jetzt von einem, der zunächst am Computer saß und dann ein Messer im Bauch hatte – er war nicht allein zu Hause gewesen. Die Wirtin rief „Aufhören!“ Und dann noch einmal: „Aufhören! Aufhören!“ Es soll trotzdem Zugaben gegeben haben.

CHRISTINE ZEINER