EU fördert Minilöhne

Der Europäische Gerichtshof entscheidet: Ein Bundesland darf Firmen bei der Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen keine Tariflöhne vorschreiben

Die Entsenderichtlinie, die den zeitlich begrenzten Einsatz von Mitarbeitern ausländischer Firmen in allen EU-Mitgliedstaaten regeln soll, gibt es seit 1996. Dennoch landen weiter Streitfälle vor dem Europäischen Gerichtshof. Mit einer neuen „Empfehlung“ will die EU-Kommission Rahmenbedingungen schaffen, die manchen Streit verhindern. So sollen die Behörden der Mitgliedstaaten enger zusammenarbeiten und sich auf einheitliche Nachweise einigen. Ein Kommissionssprecher räumte aber ein, dass der Konflikt zwischen den Löhnen im Herkunftsland und der Arbeitsmarktsituation im Gastland damit nicht ausgeräumt sei. DPS

VON CHRISTIAN RATH

Der Staat darf von Bauunternehmen bei der Erledigung von öffentlichen Aufträgen nicht die Bezahlung von Tariflöhnen verlangen. Das hat am Donnerstag der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden. Er sah in der Tariftreueklausel des niedersächsischen Landesvergabegesetzes einen Verstoß gegen EU-Recht.

In Niedersachsen gilt die Verpflichtung zur Zahlung von Tariflöhnen bei allen Aufträgen des Landes und der Kommunen, die den Wert von 30.000 Euro übersteigen. Im konkreten Fall ging es um den Bau der Haftanstalt Göttingen-Rosdorf, bei der ein polnischer Subunternehmer erwischt wurde, der seinen 53 Arbeitern nur knapp die Hälfte des Tariflohns bezahlte. Das Land verlangte deshalb vom Bauträger eine Vertragsstrafe von 85.000 Euro, was einem Prozent der Auftragssumme entsprach. In dem Streit legte das Oberlandesgericht Celle dem EuGH die Frage vor, ob die Tariftreueklausel gegen EU-Recht verstößt.

Der EU-Gerichtshof sieht einen Verstoß gegen die EU-Entsenderichtlinie von 1997. Dort ist geregelt, dass für Arbeiter, die zur Verrichtung von Dienstleistungen ins Ausland geschickt werden, das dortige Arbeitsrecht gilt – soweit es in Gesetzen oder allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen geregelt ist. Ein normaler Tarifvertrag gilt aber nur für gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und Unternehmen, die Mitglied im Arbeitgeberverband sind.

Deshalb dürfe, so der EuGH, auch bei öffentlichen Ausschreibungen nur die Einhaltung des gesetzlichen Arbeitsrechts sowie von allgemeinverbindlichen Tarifverträgen gefordert werden. Wenn höhere Anforderungen gestellt werden, laufe die EU-Richtlinie, die den freien Dienstleistungsverkehr fördern wolle, leer.

Das Urteil kommt überraschend. Im letzten Herbst hatte der unabhängige Generalanwalt am EuGH Yves Bot in seinem empfehlenden Schlussantrag die Tariftreueklausel für EU-konform gehalten. Ein über die Entsenderichtlinie hinausgehender nationaler Schutz sei möglich. Der EuGH sah dies anders. Auch soziale Gründe könnten die Tariftreueklausel nicht rechtfertigen. Es sei nicht zu verstehen, warum bei öffentlichen Aufträgen ein höherer Schutz für Arbeitnehmer gelten solle als bei privaten Aufträgen.

Betroffen sind von dem Urteil ähnliche Gesetze in Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen und Niedersachsen. Damit sind die Löhne bei öffentlichen Aufträgen aber nicht völlig freigegeben. Einzuhalten sind die etwa 10 Prozent niedrigeren Mindestlöhne für entsandte Bauarbeiter. Diese für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge setzen die EU-Entsenderichtlinie um.

Traditionell darf bei der Vergabe öffentlicher Bauarbeiten nur der Preis, die Fachkunde und die Zuverlässigkeit der Anbieter berücksichtigt werden. Seit 1999 enthält das bundesweite Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen eine Öffnungsklausel, die dem Bund und den Ländern erlaubt, „weitergehende Anforderungen“ aufzustellen. Ein rot-grünes Bundesgesetz, das bei öffentlichen Aufträgen die Zahlung von Tariflöhnen forderte, scheiterte 2002 im CDU-dominierten Bundesrat.

Einige Bundesländer, auch solche mit CDU/CSU-Regierung, führten entsprechende Landesgesetze ein. 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass solche Gesetze nicht gegen das Grundgesetz verstoßen. Der Schutz hoher sozialer Standards könne Eingriffe in die Berufsfreiheit der Unternehmer rechtfertigen. Umstritten blieb aber bis gestern, ob solche Tariftreueklauseln mit Europarecht vereinbar sind. Gewerkschaften und SPD kritisierten den Richterspruch. „Ich bedauere, dass der Gerichtshof erneut die Dienstleistungsfreiheit über den Schutz der Arbeitnehmer stellt“, sagte etwa die SPD-Europaabgeordnete Karin Jöns. Die Entsenderichtlinie sei als Mindestgarantie zugunsten der entsandten Arbeitnehmer vorgesehen. „Mit dem Urteil verkehrt der Gerichtshof die Intention der Entsenderichtlinie ins Gegenteil und erklärt den Mindestschutz zum maximal zulässigen Schutz.“ (Az.: C-346/06)

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