Die Wand wackelt anderswo

Mit Werner Bräunigs in der DDR verbotenem Roman „Rummelplatz“ feierte der Aufbau-Verlag einen großen Erfolg. Nun kommen Kurzgeschichten des Autors hinterher

Als Heiner Müller und mit ihm der Regisseur B. K. Tragelehn nach der Uraufführung der „Umsiedlerin“ 1961 von der Partei schwer angezählt wurden, seien sie beide – so berichtet Tragelehn – von Kneipe zu Kneipe gezogen, und bei jedem Schnaps habe Müller gesagt: „Es geht doch nicht mit Realismus.“ Müller, für zwei Jahre kaltgestellt, geht daraufhin zurück auf einen antiken Stoff, er schreibt „Philoktet“.

Christa Wolf, vom 11. Plenum der SED 1965 in eine Krise gestürzt, entwickelte ihre Poetik der subjektiven Authentizität. Mit „Christa T.“ lag 1968 das erste Resultat des neuen Schreibens vor.

Im selben Jahr, 1968, reichte auch Werner Bräunig ein Manuskript ein: „Gewöhnliche Leute“ hieß der schmale Erzählungsband. Auch für Bräunig war es der Versuch eines Neuanfangs – sein großer Romanentwurf „Rummelplatz“ hatte nicht das Plazet der Parteioberen erhalten. Erst 2007 konnte „Rummelplatz“ erscheinen, nachdem das Manuskript lange als verschollen galt. Mit inzwischen 65.000 verkauften Exemplaren – mit 10.000 hatte man gerechnet – wurde es für den Aufbau-Verlag zu einem unerwarteten Erfolg.

Anders als Müller oder Wolf war Bräunig Mitte der Sechzigerjahre ein kaum bekannter Autor. Zwar wurde er von Insidern geschätzt, aber es lag noch kein Buch von ihm vor. Zudem wurde ihm seit „Rummelplatz“ misstraut. Über den „politisch-ideologischen Zustand“ des Literaturinstituts in Leipzig, wo Bräunig als Dozent lehrte, war man besorgt. Anfang 1966 schließlich wurde Bräunig sogar von seiner Tätigkeit als Dozent am Leipziger Literaturinstitut suspendiert. Er sollte sich als Journalist „bewähren“, eine eher milde Form der Strafe, gemeinhin wurden Störenfriede in die Produktion geschickt. Für die Freiheit, Organ der SED-Bezirksleitung Halle, schrieb Bräunig ab Sommer 1966 vor allem Reportagen vom Bau.

Für die Erzählungen von „Gewöhnlichen Leuten“ greift Bräunig auf diese Recherchen zurück. Er will nicht den „Fehler“ von „Rummelplatz“ wiederholen, wo starke Figuren in ihrem Eigensinn vom Kurs des sozialistischen Realismus abwichen. „Hier wackelt nicht dauernd die Wand. Wir haben nur alltägliche Geschichten zu bieten“, schreibt er für den Klappentext.

Wie schon in „Rummelplatz“ erzählt Bräunig aus der Perspektive der Figuren, hin zu jenem Duktus des mündlichen Erzählens, den er am Werk von Johannes Bobrowski so bewunderte. Das treibt er so weit, dass die erzählenden Figuren und des Autors Stimme fast zur Deckung kommen. Damit gelingt es ihm zwar, auch einen der Vorwürfe an „Rummelplatz“ zu entkräften – nämlich dass die Position des Autors zu undeutlich bleibe. Auf der Strecke bleibt aber der Drive: jene Eigenbewegung des Materials, die realistisches Erzählen ausmacht. Es ist dieser letztlich doch auktoriale Ton, der die Figuren über Konflikte hinwegfliegen lässt, getreu dem Motto: Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Bräunigs Erfahrungen der Baustellen wirken wie Angeschautes, Angeschafftes. Da gibt es einfach zu wenig Fleisch, zu wenig Realität. Zum anderen wirkt die kleine Form der Erzählung wie eine Zwangsjacke auf seine Erzähltechnik. Das Losgelassene, Entgrenzende von „Rummelplatz“ ist jetzt eingefangen, gebändigt. „Würde Bräunig seine Gestalten in groß angelegte epische Aktion führen, so ginge viel von der Sicherheit ihrer Position (vielleicht auch ihres Autors?) verloren“, heißt es in einem Gutachten.

„Gewöhnliche Leute“ kann 1968 problemlos erscheinen. Das Buch wird ein Erfolg und sogar mit dem Kulturpreis des Gewerkschaftbundes ausgezeichnet. Wer „Rummelplatz“ kennt, für den ist es Zeugnis von Anpassung und Resignation eines großen Autors.

In einer Erzählung jedoch scheint auf, wohin Bräunigs Schreiben hätte gehen können. „Stillegung“ ist die Geschichte eines Bergmanns, der an das Ende seines kampfreichen Lebens noch ein paar Jahre als Nachtwächter hängt. Sie klingt aus in einem lakonischen Ton der Desillusionierung – man meint den kommenden Christoph Hein schon zu hören. STEFAN MAHLKE

Werner Bräunig: „Gewöhnliche Leute“. Aufbau-Verlag, Berlin 2008, 273 Seiten, 19,95 Euro