: Avisek aus der Wunderlampe
Theater findet im Kopf statt: Direkt dahinein schicken dir Rimini Protokoll in ihrem Projekt „Call Cutta in a Box“ eine Stimme
Du betrittst ein fremdes Bürozimmer in einem Gebäude, in dem du noch nie warst. Es ist modern, großzügig, ein Ledersessel steht vor dem breiten Fenster. Das Telefon klingelt. Du musst rangehen, wenn du die theatrale Installation „Call Cutta in a Box“ erleben willst. „Hello“, sagt die Stimme am anderen, verrauschten Ende der Leitung. „Mein Name ist Avisek Arora. Sie finden meine Visitenkarte auf dem Tisch. Warum schließen Sie nicht die Tür ab, ziehen die Schuhe aus und entspannen sich? Wir werden eine Stunde reden, und es wird gut. Lassen Sie mich Teewasser heiß machen.“
Wenn er aus dem Fenster gucke, sagt er, sehe er auf die Stadt, auf Teeläden, Hunderudel, Megabaustellen, „die arbeiten hier rund um die Uhr“. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich auf die Wilhelmstraße, ein paar Passanten, sonst nichts. Es ist 18.10 Uhr in Berlin und 21.40 Uhr in Kalkutta. Es regnet überall. Wir sind in Szene zwei, sagt er.
„Call Cutta in a Box“ heißt das neue „Intercontinental Phone Play“ von Rimini Protokoll, eine Variation ihres „Call Cutta“-Projekts von 2006, organisiert vom HAU. Damals wurden Theatergänger mit Mobiltelefonen ausgestattet und von Callcentermitarbeitern in Kalkutta durch Kreuzberg geleitet, und jeder, der dabei war, schwärmte davon. Es wurde von Ghandis Gegenspieler Subhash Chandra Boses Unternehmungen in Berlin erzählt, nebenbei kam man ins Gespräch. „Call Cutta in a Box“ verzichtet auf eine Erzählung, die Bewegung, das Draußen und konzentriert sich ganz auf die Intimität des Dialogs. Was ist möglich mit einer inszenierten Zufallsbekanntschaft? Worüber sprecht ihr, was gibst du preis, wo lügst du? Klar, der Mann sitzt auf der anderen Seite des Erdballs, aber seine Stimme ist doch direkt in deinem Ohr. In deinem Kopf. Da, wo sowieso der wesentliche Teil des Theaters stattfindet.
Avisek Arora arbeitet bei Descon Limited. Normalerweise verkauft er Telefone, behauptet er zumindest, derzeit sprechen er und seine Kollegen sechs Stunden täglich mit Publikum in Berlin, Mannheim und Zürich, in Englisch und in Deutsch. Offensichtlich folgen sie lose einem Skript und Dramaturgiegerüst. Zunächst gibt es Fragen: Alter, Familie, Drogenkonsum, als was möchtest du wiedergeboren werden? (Avisek als Vogel, dann würde er Reisekosten sparen.) Er singt dir ein Lied, bittet dich, ein Porträt von ihm zu zeichnen. Dazu kommen technische Spielereien: Er macht via Remote Control Musik an, das Licht, einen Ventilator. Später schickt er ein Fax mit seinem Bild, dann diktiert er das Passwort für den Computer, und ihr seid über Videochat verbunden. Erst siehst du sein Auge, dann sein Gesicht, dann den ganzen Mann im Callcenter. Avisek aus der Wunderlampe.
Das ist so nett wie absehbar: Das ganze Stück birgt keine Konflikte, sondern stellt einfach eine nette Situation her. Tatsächlich eine, die ich mir über Websites, Chatrooms und Skype fast genauso zu Hause selbst herstellen kann, denn im Zentrum steht schlicht der Flirt mit einem Fremden bei gleichzeitiger Gelegenheit, mich selbst als Fremde zu erfinden. Rollen auf beiden Seiten also, nur dass einer bezahlt wird. Vielschichtiger wird das Spiel dadurch kaum. Spaß macht es trotzdem. Auch weil an der Bürowand das Foto eines Inders hängt, der original wie die bengalische Wiedergeburt Dieter Kosslicks über die Grünpflanze grinst. CHRISTIANE KÜHL
Im Willy-Brandt-Haus, 14–19 Uhr, bis 29. Juni. Reservierung erforderlich, (0 30) 25 90 04 27 (HAU)
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