Die Kirschblüte als Parabel

Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe blühen auf japanischen Holzschnitten in sinnloser Schönheit die Kirschbäume. Bald ist das Schauspiel auch im Alten Land bei Hamburg zu sehen, dem größten Obstbaugebiet Europas

Für die Feier der Blütenschau lassen die Japaner ihre Arbeit ruhen und ziehen unter die Dächer der Kirschbaumwälder

VON MAXIMILIAN PROBST

Das Alte Land südlich der Elbe bei Hamburg ist das größte zusammenhängende Obstanbaugebiet Mitteleuropas. Im Frühjahr ist es auch eins der beliebtesten Ausflugsziele im Norden: Wenn die Apfel- und Kirschbäume blühen, zieht es die Menschen scharenweise aus den Städten ringsum in den sonst so ruhigen Landstrich. Doch die Fahrradtouren ins Alte Land halten keinem Vergleich zu dem riesigen allgemeinen Volksfest stand, mit dem in Japan die Kirschblüte gefeiert wird. In einer Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe lässt sich sehen, dass die Kirschblüte in Japan weit mehr bedeutet: Sie ist ein zentrales Thema der japanischen Kunst und eine Schlüsselmetapher für die Vergänglichkeit, die das Zentrum der japanischen Ästhetik bildet.

Wenn im Obstbaugebiet Altes Land die Bäume blühen, finden wir das schön, doch erblicken wir in der Blüte bereits die Frucht: Das ist legitim, aber auch reichlich banal, wie man spätestens bemerkt, wenn man in sich im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe die Holzschnitte der Ausstellung „Sakura – die japanische Kirschblüte“ anschaut. Auf einem farbenfrohen Druck des Holzschnittkünstlers Ando Hiroshige (1797 – 1858) sieht man den nahe Kioto, der alten Kaiserstadt, gelegenen Berg Arashiyama, zu dessen Fuß träge ein Fluss fließt. An den Hängen ballen sich weiße, ins Rosa spielende Kirschbäume in Blüte. Einzelne, hauchzarte Blütenblätter treiben durch die Luft – während sich auf dem Fluss zwei Männer auf einem Kahn abmühen.

Es ist wie eine Parabel: Die Kirschblüte, so leicht, löst sich im Moment ihrer prächtigsten Entfaltung vom Ast. Sie verblüht nicht, sie weht davon, just wenn sie am schönsten ist und hinterlässt beim Betrachter ein tiefes Gefühl dafür, wie kurzlebig, wie vergänglich das Schöne ist, und wie vergeblich damit auch das Leben. Und die Ruderer, die Menschen auf dem Kahn, sind wir. Auf dem Fluss des Lebens mühen wir uns ab und haben wir es erreicht, dann haben wir es damit auch schon wieder verloren.

Es heißt, dass die Kirschblüte als Symbol der Vergänglichkeit in Japan auf die Adelskultur des 12. Jahrhunderts zurückdatiert. Es sollen eine Reihe von politischen Wirren und Katastrophen gewesen sein, die den Japanern unvergesslich vor Augen geführt habe, wie fragil die Ordnung ist, in der man lebt.

Was dem Buddhismus mit seinem Glauben an die Endlichkeit aller Dinge ohnehin zupass kam, hat eine feinsinnige Aristokratie zu einer Ästhetik gewendet, in der die Vergänglichkeit alles Schönen dominiert, ihre Bewegtheit, ihr Verschwinden. Auf einem der Drucke Hiroshiges sind bloß noch die wehenden Blüten im Bilde, vom Baum keine Spur.

So vergänglich das Schöne, so nutzlos ist es auch. Man kann nichts mit ihm anfangen. Der Blick der Japaner auf die Kirschblüte ist ein Blick zurück: „Schau, da fliegt sie. Schon ist sie hin.“ Es ist ein melancholischer Blick. Und es ist ein poetischer Blick. Auf paradoxe Weise ist er auf die Sache selbst und ihre Unwirklichkeit gerichtet.

Einmal sehen wir die blühenden Bäume einen Tempel säumen, und der Tempel wird dadurch so leicht, als sähe man ihn in einem Traum. Ein anderes Mal hängen die Bäume wie morgendliche Nebelschleier über einem Tal. Zuletzt ist der japanische Blick auf die Blüte immer eine Feier des Moments: „Schau die Blüte, genieße, jetzt, morgen wird es schon zu spät sein.“

Für diese Feier, für die kurzen Tage der Blütenschau (hanami), lassen die Japaner bis heute ihre Arbeit ruhen und ziehen mit Bier und Reiswein unter die weitgespannten Blütendächer der Kirschbaumwälder. Hiroshige zeigt uns ein Wirtshaus, umgeben von blühenden Bäumen, darunter auf Bänken freudiges Volk.

Hierzulande, im Obstanbauland, fällt der Gedanke an die schöne Nutzlosigkeit der Blüte schwer. Einen Blütenzweig abzubilden, auf dem ein Vogel – auch so eine Nutzlosigkeit – sich niederlässt, käme keinem in den Sinn, schon deswegen nicht, weil die auf reife Kirschen fliegenden Vögel für den Bauern im Alten Land ein rotes Tuch sind. Das beliebteste Frühlingsfotomotiv im Alten Land zeigt eine Blüte mit Biene. Nur die Blüte wäre zu wenig, und eine Biene, ja sicher: das ist ein fleißiges, ein emsiges, ein nutzbringendes Tier.