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: Maria vom Hass

Packender Mittelalterroman, der jungen Lesern eine Gegenwelt zur rational-sauberen Überflussgesellschaft bietet.

Ludwig von Flandern spricht zu seiner Tochter Marguerite. „Jedes Mal, wenn ich dich sehe, sehe ich Gott, der mich auslacht. Denn das ist es, was du bist. Ein Witz. Ein Witz Gottes.“ Keiner der Söhne Luwigs wird gesund geboren oder lebt länger als ein paar Monate. So wird Marguerite zur alleinigen Erbin seines Reichs und damit zur begehrten Handelsware auf dem Hochzeitsmarkt der Adeligen.

Es ist die Zeit des Hundertjährigen Krieges, der französische König sitzt im Londoner Gefängnis. Kein Wunder, dass England mit dem jüngsten seiner Prinzen um Marguerite wirbt, um seine Macht auszubauen. Ludwig von Flandern ist stolz. Bis der Papst dieser Verbindung überraschend seinen Segen verweigert. Marguerite triumphiert, denn Edmunds Gesicht ist mit eitrigen Pusteln bedeckt. Mit 14 Jahren heiratet Marguerite stattdessen den nur wenig älteren Filips, Neffe des französischen Königs. Das Glück, das Marguerite erwartet, bleibt jedoch aus: Die Pest rafft ihren jungen Ehemann kurz nach der Hochzeit dahin.

Mittelalterliche Settings haben nicht nur in der Kinder- und Jugendliteratur Konjunktur, bilden hier aber mittlerweile eine Art eigenes Genre. Aberglaube, Frömmigkeit und ritterliche Helden erschaffen eine faszinierende Gegenwelt zur rational-sauberen Überflussgesellschaft. Das Mittelalter wird dabei oft zur Kulisse, die von modernen Geistern bespielt wird.

Wie in „Die Erbin von Flandern“ von Jean-Claude van Rijckeghem und Pat van Beirs. Wenige historische Daten sind über Marguerite von Male (1350–1405) verbürgt. Die Autoren haben sich von den spärlichen Informationen zu einem außergewöhnlich packenden Roman inspirieren lassen.

Die 15-jährige Marguerite erzählt ihre eigene Geschichte nüchtern und prägnant. Diese beginnt in der eiskalten Nacht ihrer Geburt und ist geprägt von der Missachtung durch den Vater. Doch statt seine Liebe durch Gefügigkeit zu erheischen, widersetzt sie sich, wo sie kann. Marguerite heckt mit den Jungs Streiche aus, reitet im Herrensitz, übt Küssen im Pferdestall und nimmt heimlich Fechtunterricht. Als der Vater sie zur Heirat zwingen will, betet sie sich in einer kleinen Kapelle mit einer beschädigten Marienfigur, der heiligen Maria vom Hass, die Wut aus dem Leib. Bis sie erkennt, was sie der Willkür des Vaters entgehen setzen kann.

Dass Marguerite de Male später Philip den Kühnen heiraten und 11 Kinder gebären wird, erzählt das Buch nicht mehr. Van Rijckeghem und van Beirs gehen sehr frei mit der historische Information um und dichten der Erbin von Flandern einen eigenwilligen Charakter an. Was sie dabei erschaffen, ist trotzdem überzeugend. Ob eisige Nächte in der zugigen Burg oder die Schwertkämpfe in Schlamm und Kot – in Miriam Presslers gelungener Übersetzung lässt die unmittelbare Sprache des Autorenduos die jungen Leser das Mittelalter riechen, schmecken und fühlen.

SARAH WILDEISEN

Jean-Claude van Rijckeghem, Pat van Beirs: „Die Erbin von Flandern“. Aus dem Niederländischen von Miriam Pressler. Gerstenberg 2008. Ab 14 Jahren