Du kannst dir ein Bildnis machen

Thorsten Berndt hat die Armut in der Nachbarschaft fotografiert. Bei der Hamburger „Triennale der Photographie“ zeigt der Fotograf der analogen Schule seine konzentrierten Schwarz-Weiß-Portraits vom Rand der Gesellschaft. Besuch bei einem Konservativen mit graumeliertem Zopf

Man kann in seinen Portraits Facetten erkennen und die Leerstellen kann man mit der eigenen Vorstellungskraft füllen

VON ELISABETH WEYDT

Thorsten Berndt muss nicht nach Sao Paulo, um Armut zu erleben. Nicht einmal auf den Hamburger Kiez. Er ist durch den Kreis Pinneberg gestreift und hat mit seiner Hasselblad die Armut vor seiner Tür fotografiert. 21 Gesichter, die den Betrachter mit erstaunlich aufgeweckten Augen ansehen, hat er ihr gegeben. Die Anmut der Armut blickt einen an, ein scheuer Stolz.

Berndts Schwarz-Weiß-Fotos „Lieblingsplätze – Portraits zwischen Armut und Obdachlosigkeit“ sind ab morgen bei der vierten „Triennale der Photographie“ in Hamburg und Umgebung zu sehen. Das zehntägige Festival mit Ausstellungen, Workshops und Symposien beginnt heute und zeigt auch Arbeiten international bedeutender Künstler wie F. C. Gundlach, dessen Retrospektive heute in den Deichtorhallen eröffnet wird.

Thorsten Berndt ist gespannt, wie seine Ausstellung ankommt. Die Bilder im Museum Langes Tannen in Uetersen werden nicht die lautesten im großen Fotozirkus der Triennale sein. Berndt interessiert sich nicht für das Spektakuläre, sondern für die Geschichten derer, die er fotografiert. „Diesen Menschen hat das Leben übel mitgespielt: Schulden, plötzlich arbeitslos und dann obdachlos“, erzählt der Fotograf. „Eine Frau hat zwei Jahre in ihrem Auto gelebt!“

Der große Mann mit graumeliertem Zopf, Jeans und Wanderschuhen dreht seine Hornbrille zwischen den Fingern und schaut in die Osterglockenidylle vor dem Museum. Man versteht, warum der Blick der Menschen auf den Fotos so offen ist. Berndt gelingt es mit einer unaufgeregten Art, eine Verbindung zu seinem Gegenüber aufzubauen. Die Portraitierten fühlten sich von ihm, der Uetersen mit einem bedeutungsschwangeren „Heimat“ bezeichnet, nicht ausgestellt oder inszeniert. „Das sind Menschen wie du und ich. Wenn du sie triffst, merkst du gar nicht, in welch ärmlichen Verhältnissen die leben.“

Thorsten Berndt hat diese Menschen an ihren Lieblingsplätzen fotografiert. Ein Foto zeigt zum Beispiel Peter Vogt, der sich gerne in der Pinneberger Fußgängerzone aufhält. Da sitzt er und sieht von seiner Kaffeetasse auf. Marion Steffen und ihr Sohn Yannik stehen auf einem anderen Foto an der Elbe in Wittenberge und bändigen ihren bellenden Hund.

„Das macht einem schon Angst, wenn man sieht, wie schnell der Abstieg kommen kann“, sagt Berndt, der zuvor von seinem „gebrochenen Lebenslauf“ erzählt hat, und dass er nie in einem Nine-to-Five-Bürojob arbeiten könnte. Darum hat sich nach einer Ausbildung zum Fotografen und einigen Jahren „Luststudium Soziologie“ ins unstete Feld der freiberuflichen Kreativen gewagt. „Ich wechsle gern zwischen Standbein und Spielbein, seh’ mich aber definitiv als Künstler.“

Sein momentanes Standbein ist die Politik. Er arbeitet für den Grünen-Bundestagsabgeordneten Rainder Steenblock. Was er genau tut, darüber schweigt er sich aus. „Das hat mit meinen Bildern nichts zu tun.“ Seine politische Sensibilität – er ist seit 20 Jahren bei den Grünen – aber schon: „Als Fotograf ist man auch politisch, klar. Man positioniert sich.“

Bei seiner Fotoserie war es ihm wichtig, „Menschen, die wir sonst übersehen, in den Mittelpunkt zu setzen“, wie er sagt. Zu diesem Zweck hat er sie in quadratischen Doppelportraits fotografiert. Das eine Bild zeigt in einem engen Ausschnitt das Gesicht, das andere den Menschen an seinem liebsten Ort – schwarz-weiß und „ohne Firlefanz“, wie er sagt. Denn Farbe übertünche oft das Wesentliche.

Thomas Berndt läuft die Reihen der Gesichter im Museum ab. „Ich bin da sehr konservativ“, sagt er. „Und das mein ich jetzt nicht negativ.“

Berndt ist ein Mann der alten Schule, der nur analog fotografiert und die Bilder im eigenen Schwarzweiß-Labor entwickelt. Für ein früheres Projekt fuhr er mit einer selbst gebauten Panorama-Lochkamera – einer begehbaren Camera Obscura – vier Sommermonate lang im Bauwagen durch Schleswig-Holstein und brachte weiche Bilder aus einer anderen, langsameren Weltzeit mit. Derzeit zieht er mit dieser Lochkamera durch die Stadt und fotografiert für seine neue Idee „Hamburger Streifen“, auch diese sind schwarzweiß.

Konservativ sei er, oh ja, aber nicht mehr „ideologisch verbrämt.“ Er sagt dieses seltsame alte Wort und grinst wie über eine Lausbubengeschichte. Ideologisch, das sei er früher mal gewesen. Da wollte er aus Prinzip keine Menschen fotografieren, weil er der Ansicht war, es sei unmöglich, deren Facetten in nur einem Bild darzustellen. „Aber man verändert sich, die Welt verändert sich“, sagt Berndt. „Das ist ja das Schöne am Leben.“

In seiner Ausstellung in Uetersen sind von ihm überhaupt nur Fotos von Menschen zu sehen. Berndt hat seine eigene These widerlegt: Man kann in seinen Portraits Facetten erkennen, und die Leerstellen kann man mit der eigenen Vorstellungskraft füllen, so das man sich unwillkürlich fragt, welche Geschichten diese Leute wohl erlebt haben.

Obwohl Thorsten Berndt ein Fotograf der alten Schule ist, hat er nichts gegen digitale Bilder. „Ach, die Bilderschwemme find ich toll, da stechen meine ja raus.“ Das sagt er ganz konzentriert, und es klingt weder großkotzig noch ironisch. Angst scheint der Fotograf keine zu haben. „Naja, Sicherheit“, das sei ja auch so eine Definitionssache. Dafür habe er sein Standbein.

Was sein nächstes Spielbein sein wird, weiß er noch nicht. Aber einen großen Traum hat er noch, und als er davon spricht, kommt wieder dieses Lausbuben-Grinsen: „ein Roadmovie in Schwarz-Weiß!“

„Lieblingsplätze – zwischen Armut und Obdachlosigkeit“, 13. April bis 1. Juni, Museum Langes Tannen Uetersen. Vernissage: 12. April, 16 Uhr