Die Senioren kommen

Da es immer mehr alte Menschen gibt, verändert sich auch das potenzielle Publikum für Kulturveranstaltungen. Bislang reagieren viele der großen Kulturhäuser in Norddeutschland kaum auf diese Entwicklung: Ihre Spezialangebote richten sich nach wie vor nicht an die Alten, sondern an die Jungen

„Die Kulturpolitik muss sich neu erfinden, um für das 21. Jahrhundert gewappnet zu sein“

von ANJA GRÜNENFELDER

Es ist ein sonniger Donnerstagvormittag im April, und trotzdem sind nur wenige Menschen vor dem kolossalen Gebäude des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe anzutreffen. Das Museum zeigt unter anderem die Sonderausstellung über die Königsgräber der Skythen, die zwischen dem 8. und 3. Jahrhundert vor Christus im Süden Sibiriens lebten. Es ist eine aufwändige Sonderausstellung, die zuvor bereits in Berlin und München zu sehen war. Und es ist eine Ausstellung, die sich füllt, wenn die Reisebusse kommen. In denen sitzen fast ausschließlich Menschen über 60, die sich das Ausstellungsevent nicht entgehen lassen wollen. Die Ausstellung ist mit einem Mal voll. Aber Hektik kommt keine auf, denn Rentner haben Zeit.

Bei einer Besucherbefragung des Museums für Kunst und Gewerbe kam heraus, dass im Schnitt 40 Prozent der Besucher über 60 Jahre alt sind. Lediglich 11,5 Prozent der Besucher sind 30 Jahre und jünger, Kinder ausgenommen. Und das kann kaum verwundern: Der demographische Wandel ist längst in Gang und die weitere Entwicklung ist absehbar. Die Zahl der Rentner wird ab 2015 rapide ansteigen. Der Anteil der über 65-Jährigen wird sich von 1990 bis zum Jahr 2030 von 15 Prozent auf knapp 30 Prozent nahezu verdoppeln.

Für die kulturellen Einrichtungen „ist das ist eine Chance“, sagt Norbert Sievers, Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft Bonn. Eine Chance vor allem deshalb, weil die Generation der „Babyboomer“ mit einem Geburtsjahr zwischen 1955 und 1970 von der Bildungsreform profitiert hat und für kulturelle Angebote ansprechbar sein wird. Die entscheidenden Faktoren für kulturelle Nutzung sind Bildung, Zeit und Geld. Noch nie zuvor hat es so viel ältere Menschen gegeben, die über diese Ressourcen verfügt haben. Und es werden immer mehr.

„Auf Senioren sollte stärker eingegangen und Rücksicht genommen werden und zwar nicht auf diejenigen, die ohnehin mobil sind und Geld haben“, sagt Sievers. Die Kulturpolitik habe die Verantwortung, sich auch um diejenigen zu kümmern, die nicht über die nötigen Ressourcen wie Bildung, Geld und Zeit verfügen. Notwendig seien aktivierende Strategien, um das Interesse für kulturelle Angebote auch bei denjenigen zu wecken, die kulturell wenig aktiv sind. Außerdem sollen finanzielle Teilhaberbarrieren minimiert werden, beispielsweise durch kostenlose Eintritte in die Museen. Auch über mobile Kulturangebote müsse neu nachgedacht werden.

Berücksichtigen die großen Kulturhäuser in Norddeutschland den demografischen Wandel bei ihrer Programmgestaltung bereits? „Wir haben noch keine bestimmten Konzepte für Senioren entwickelt“, sagt Carsten Preisler, Pressesprecher des Bremer Konzerthauses „Die Glocke“. Vorstellen könnte er sich für ein älteres Publikum beispielsweise eine Matinee am Sonntag. Auch in der Laeiszhalle in Hamburg hat man noch keine konkreten Pläne: „Für das Programm der Elbphilharmonie können wir uns vorstellen, mit Lunchkonzerten auf die demografische Entwicklung zu reagieren“, sagt Petra Gaich, Leiterin des Künstlerischen Betriebsbüros.

Auch die Kunsthalle Hamburg konzipiert keine speziellen Ausstellungen für Senioren und ist auch nicht daran interessiert, das Programm auf Zielgruppen auszurichten: „Wir achten darauf, dass diejenigen Leute gut bedient werden, die gerne kommen“, sagt Martina Sitt, Stellvertreterin des Museumsdirektors Hubertus Gaßer. Ulrich Khuon, Intendant des Thalia-Theaters, kann nebst älteren Besuchern auch immer mehr junge Leute für das Theater begeistern, und sagt: „Ich glaube, ich erreiche die Balance im Programm dadurch, dass ich nie ein Zielgruppen-Theater machen wollte. Theater und Kunst ist der Ort – so schwer das auch sein mag – wo Gruppen zueinander geführt und nicht getrennt werden sollen.“ Die Gesellschaft werde genügend in Gruppen aufgeteilt und das Theater habe die Möglichkeit, Generationen zusammenzubringen.

Besondere Programme für Senioren sind also Fehlanzeige – dafür wird eine ganze Menge dafür getan, junge Menschen als Publikum zu gewinnen. So organisiert das Museum für Kunst und Gewerbe beispielsweise „Date the Museum“, eine Veranstaltung mit Musik und Gastgesprächen, die einmal im Monat durchgeführt wird. Auch die Glocke in Bremen bietet seit 1999 Kinderprogramme an und baut diese kontinuierlich aus. Kinder können beispielsweise bei Proben dabei sein und selbst etwas einstudieren, für Jugendliche werden Konzerteinführungen durchgeführt.

Sievers ist überzeugt, dass Maßnahmen für Jugendliche und Kinder ebenso wichtig sind, damit diese früh auf die kulturellen Angebote aufmerksam werden. Thalia-Intendant Khuon stimmt dem zu: „Ich glaube, wer eine bestimmte Faszination erlebt hat, ist später offener. Wir dürfen nicht vergessen, dass Kunst auch eine Schwelle darstellt.“ Nicht nur das fehlende Interesse könne ein Problem sein, einige Leute würden Theater auch für zu kompliziert und zu anspruchsvoll halten. Das Kind müsse eine emotionale Erfahrung mit Theater gemacht haben, nicht nur eine intellektuelle.

Trotzdem, sagt Sievers, müsse sich „die Kulturpolitik neu erfinden, um für das 21. Jahrhundert gewappnet zu sein.“ Es sei dringend geboten, dass sie sich systematischer Gedanken darüber macht, wie sie das Publikum in ihre Überlegungen einbeziehen kann. Denn es wird insgesamt weniger Menschen geben und damit auch weniger Publikum. Sievers: „Das Kulturpublikum wird in den nächsten 20 Jahren sinken, wenn es nicht gelingt, über besondere Aktivierungsprogramme größere Bevölkerungskreise für Kultur zu gewinnen.“